Waffenruhe: Aufatmen im Libanon

Waffenruhe zwischen Israel und der Hisbollah gibt der leidgeprüften Bevölkerung eine Verschnaufpause

  • Mirco Keilberth, Beirut
  • Lesedauer: 6 Min.
Nach der Waffenruhe räumen Menschen am 27. November Schutt und Trümmer aus ihrer Wohnung in den südlichen Vororten von Beirut.
Nach der Waffenruhe räumen Menschen am 27. November Schutt und Trümmer aus ihrer Wohnung in den südlichen Vororten von Beirut.

In Beirut fragten sich viele Bewohner am Mittwochmorgen, ob die ungewohnte Ruhe das Ende des Krieges oder nur eine Atempause sei. Als am Vorabend die ersten Meldungen von dem Durchbruch bei den Verhandlungen über die Fernsehbildschirme in den Cafés flimmerten, schwebte selbst über der Amra-Straße in Herzen der Stadt noch pechschwarzer Rauch. Auch danach waren bis kurz vor dem um vier Uhr morgens in Kraft getretenen Waffenstillstand noch Schockwellen schwerer Explosionen durch die Stadt gegangen. Da in den von der Hisbollah kontrollierten südlichen Vororten bereits hauptsächlich Ruinen stehen, trafen die Bomben der israelischen Luftwaffe auch immer wieder Häuser in von Sunniten, Christen oder allen Religionsgruppen zusammen bewohnten Gegenden.

Vor einem Haus im Stadtteil Noweiry warteten am Mittwochmorgen Angehörige von Verschütteten. Laut israelischen Medien war ein hochrangiger Hisbollah-Kommandeur das Ziel einer 2000-Kilo-Bombe, die ein sechsstöckiges Wohnhaus zum Einsturz gebracht hatte. »Netanjahu hat ja offen gesagt, dass wir Libanesen nun gegen die Hisbollah kämpfen sollen«, sagt Student Khaled Kabbara. »Ich bin wie viele hier gegen die Hisbollah. Aber Netanjahu (Israels Regierungschef, d. Red.) versteht nicht, dass die Bombardierung ganzer Stadtteile die gesamte Region, ja auch ehemalige Gegner vereint hat.«

Waffenstillstand für 60 Tage

Mit der Waffenpause seit Mittwochmorgen endete der 14-monatige Beschuss von Dörfern und Städten auf beiden Seiten der libanesisch-israelischen Grenze. Laut Abkommen müssen sich die am 1. Oktober in den Libanon eingerückten israelischen Militäreinheiten in den nächsten zwei Wochen nach Israel zurückziehen.

Im Gegenzug sollen die in dem bewaldeten Grenzgebiet versteckten Hisbollah-Einheiten hinter den Litani-Fluss verlegt werden, der zwischen zehn und 30 Kilometer von der Grenze entfernt verläuft. Dies hätte eigentlich bereits nach dem Ende des vergangenen israelisch-libanesischen Krieges geschehen sollen. Nun bereiten sich die 10 000 Blauhelme der Unifil-Mission zusammen mit der einrückenden libanesischen Armee darauf vor, die Kontrolle der Pufferzone zu übernehmen. Bis vor Kurzem hatten Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und seine Generäle noch den Abzug der UN-Mission aus dem Kampfgebiet gefordert.

Ein Komitee US-amerikanischer und französischer Militärs soll zudem mögliche Zwischenfälle bewerten, schon ein Feuerwechsel zwischen den teilweise nur wenige hundert Meter voneinander entfernten israelischen Soldaten und Hisbollah-Kämpfern könnte das jähe Ende des auf 60 Tage begrenzten Waffenstillstandes bedeuten. Denn Netanjahu beharrt darauf, Provokationen der Hisbollah mit sofortigen Luftangriffen beantworten zu dürfen.

Sowohl der israelische Ministerpräsident als auch US-Präsident Joe Biden bezeichneten am Dienstag das Abkommen als »cessation of hostilities«, das Ende der Feindseligkeiten. Anders als bei einem formalen Waffenstillstand existiert kein von beiden Seiten unterzeichnetes Dokument. Es war die Reisediplomatie des US-amerikanischen Sondergesandten Amos Hochstein und ein Handschlag mit Unterhändlern beider Seiten, die zu dem überraschenden Ende der täglichen Bombardierungen führten.

Hochstein plädierte am Dienstag in einem Interview mit dem Nachrichtensender Al-Jazeera für eine gründliche Umsetzung seines Plans. »Die Entflechtung der Kriegsparteien ist risikoreich und muss in jedem Detail geplant werden. Wir müssen verhindern, dass sich das Nachkriegsszenario von 2006 wiederholt, also die nächste Runde des Krieges nur eine Frage der Zeit ist.«

Im Schneckentempo zurück in den Süden

Im Libanon sind alle froh über das vorläufige Ende des Krieges. »Doch die Angst vor der Allmacht Israels wird weniger«, so ein schiitischer Nachbar von Kabbara. »Denn die Hisbollah hat die israelische Armee daran gehindert, das Gebiet bis zum Litani-Fluss zu kontrollieren.«

Am Dienstagabend lauschen die Libanesen auf ihren Handys der live übertragenen Ansprache von Übergangspremier Najib Mikati. »Die blutigste Phase in der Geschichte des Libanon ist vorüber.« Der sichtlich bewegte Mikati kündigte die Verlegung großer Armeeeinheiten in den Süden an und forderte von Israel die Einhaltung des Waffenstillstandes.

Die massive Bombardierung der Stadt kurz vor Beginn des Abkommens versteht man in Beirut als Warnung. »Mitten in den Staubwolken der Bomben vom Vorabend nimmt Mohamed Malla mit zitternden Händen einen Schluck aus seiner Kaffeetasse. «Das war hoffentlich der letzte Versuch der aussichtslosen Strategie, den Libanon zu brechen», sagt der 35-Jährige. Überall um ihn herum liegen Glassplitter und Trümmer der Häuserfassaden auf der Straße.

Der Analyst Ali Rizk glaubt nicht an einen historischen Wendepunkt des Konfliktes. «Der Waffenstillstand ist für Netanjahu wohl eher eine strategische Neupositionierung. Die israelische Armee könnte die Hisbollah nun graduell, mit gezielten Angriffen schwächen. Ohne die Bodenoffensive fortsetzen zu müssen, die in den eigenen Reihen viel blutiger war, als es die israelischen Generäle erwartet hatten.»

Bereits am Mittwochmittag beschlossen vor allem die aus dem Süden geflohenen Familien, ihre Zweifel an der Umsetzung des Abkommens einfach zu vergessen und kehrten in ihre Heimatregion zurück. Während am Dienstag wegen der israelischen Bombardierungen noch kilometerlange Staus aus dem Süden ins Stadtzentrum führten, drehte sich das Bild nach nur 24 Stunden. Jetzt bewegte sich der Verkehr in Richtung der südlibanesischen Stadt Tyre im Schneckentempo. Auf vielen Autodächern sind Matratzen oder Habseligkeiten befestigt, die vor den israelischen Bomben gerettet worden waren. In einem verbeulten Mazda wartet geduldig die Familie Mahmoud im Stau. Vater Mohamed freut sich, dass es wieder zurück in ihr Apartment in der ehemals idyllisch gelegenen Hafenstadt geht. Doch nun liegen in Tyre ganze Straßenzüge in Trümmern. «Auch unser Mehrfamilienhaus wurde schwer getroffen. Wir haben kaum noch Geld und ich habe keinen Job. Zusammen mit unseren Nachbarn werden wir eben wieder bei null anfangen.»

Im Gazastreifen, dort wo die Not nach schweren Regenfällen und durch die nächtliche Kälte derzeit besonders groß ist, hoffen viele darauf, dass der diplomatische Druck auf Israel durch US-amerikanische und französische Diplomaten weitergeht. Angeblich waren in den vergangenen Wochen mehrere US-Waffenlieferungen an die israelische Armee zurückgehalten worden. Als Anreiz für einen Waffenstillstand im Libanon soll sich Frankreichs Präsident Emmanuel Macron bei seinen EU-Kollegen für den vom Internationalen Strafgerichtshof gesuchten Benjamin Netanjahu eingesetzt haben. Bei «Haaretz» und anderen regierungskritischen israelischen Medien wittert man noch einen weiteren «Zuckerbrot und Peitsche»-Deal. Demnach erhielte Netanjahu von den internationalen Vermittlern für das Pausieren der Kämpfe freie Hand für die Wiederbesiedlung von Nordgaza – ein Projekt, das seine radikalen Koalitionspartner unbedingt umsetzen wollen. Denn Nationalisten wie der Sicherheitsminister Itamar Ben Gvir waren bisher strikt gegen einen Waffenstillstand mit der Hisbollah-Miliz.

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