Aufgetaucht, verschwunden
Wenn politischer Protest auf soziale Explosion trifft: Florian Schmid über die Randale von Hamburg
Für zukünftige Historiker und Protestforscher dürften die zwei ersten Dekaden des 21. Jahrhunderts geprägt sein von regelmäßig auftretenden großen militanten Auseinandersetzungen, die als singuläre Ereignisse aber weder Kontinuität noch substanzielle Kohärenz aufweisen. Wobei für die Zeit nach 2008 die zeitliche Taktung dieser mitunter von politischem Protest unterfütterten eruptiven sozialen Erhebungen in metropolitanen Räumen immer kürzer wurde.
Der dreiwöchige Aufstand, den Griechenland 2008 nach der Ermordung eines jugendlichen Punks durch einen Polizisten erlebte, war eine Zäsur, die zum einen aufzeigte, welche Grenzen polizeiliche und sicherheitspolitische Maßnahmen in urbanen Ballungsräumen haben. Zum anderen wurde klar, dass der neoliberale Burgfrieden der postsozialistischen Wendezeit gewährleistet durch eine von Konsum gesättigte und von Zukunftsängsten zugerichtete Jugend nicht dauerhaft aufrechterhalten werden kann.
Das Ereignis hatte natürlich Vorläufer: von den Gipfelprotesten in Seattle 1999 und Genua 2001 bis zu den Banlieue-Krawallen in Paris 2005. Und weitere Ereignisse folgten: 2011 in London, 2013 in Istanbul, die Riots in Brasilien, die immer wieder aufflammenden militanten Proteste in Chile, Blockaden und Riots in Oakland, die Akte kollektiven Ungehorsams der Black-Lives-Matter-Bewegung in Ferguson und die breiten Proteste in Frankreich 2016.
Wenn diese »Aufstände«, wie sie postwendend von einigen verklärt werden, in ihrer politischen und sozialen Motivation sowie ihrer Dramaturgie sehr unterschiedlich waren und keinesfalls in toto als emanzipatorische Ereignisse qualifiziert werden können, zeigen sie doch allesamt, welche Formen politischer Protest und spontane eruptive Riots im Spätkapitalismus annehmen können, wie sich politischer und spontaner Sozialprotest überlagern, welche gesellschaftlichen Reaktionen solche Ereignisse hervorrufen und wie sie sich in den gesamtgesellschaftlichen politischen und sozialen Ereignishorizont einschreiben.
Was bisher vor allem aus der digitalen Distanz beobachtet und bewegungssoziologisch analysiert werden konnte, muss nun mit all den mitunter unangenehmen Begleiterscheinungen derartiger Ereignisse reflektiert werden. Nicht jeder, der sich an Riots beteiligt, tut dies aus emanzipatorischen Gründen, und wenige stellen sich in einer solchen Situation die Frage, was die politischen und sozialen Konsequenzen ihres Handelns sind. Hamburger Autonome verleitete das in einem Thesenpapier zu den Ereignissen in der Schanze in der Nacht vom 7. zum 8. Juli sogar zu der Feststellung: »Die politischen Gegner_innen stehen leider nicht nur auf der anderen Seite der Barrikade«.
Wie damit umzugehen ist, wird innerhalb der linken Szene sicherlich eine Debatte nach sich ziehen. Die Riots in einem gentrifizierten Kiez, der die ganzen sozialen Ausschlussmechanismen postfordistischer Stadtumgestaltung par excellence durchexerziert, als unpolitisch zu bezeichnen, ist aus einer sozialpolitischen Perspektive natürlich Unsinn. Aber diese Praxis, also den politischen Charakter derartiger Ereignisse zu leugnen, begleitet seit Jahrzehnten jeden massenmilitanten Ausbruch.
In diesem Zusammenhang lohnt sich ein Blick in den Essay »Plebs Invicta« des französischen Philosophen Alain Brossat, der nach den Krawallen der Banlieue 2005 über den plebejischen Charakter derartiger Aufstände schrieb. Das Plebejische, so merkte das auch schon Michel Foucault an, ist die sonst nicht sichtbare Rückseite der Geschichte, die erst durch einen Akt der Gewalt für alle sichtbar wird.
Laut Brossat wird die plebs zum Akteur einer Umstrukturierung des politischen Verständnisses. Sie katapultiert sich von einem Moment auf den anderen in den Mittelpunkt. Hinterher verschwindet sie wieder, wird ebenso »unsichtbar« wie zuvor. Die Akteure solcher spontaner Erhebungen sind diejenigen, die für gewöhnlich ausgeschlossen sind, der namenlose, politisch nicht repräsentierte Teil der Bevölkerung, der sich plötzlich ins Zentrum der Aufmerksamkeit schiebt. »Die Ungezählten«, wie der Philosoph Jacques Ranciere sie nennt.
Die Akteure dieser spontanen, nicht organisierten und ohne explizite politische Agenda auskommenden Militanz sind typisch für den postdemokratischen Politikbetrieb unserer Tage und seine immer wieder konstatierte Krise der Repräsentation. Dies im Nachgang der Ereignisse als unpolitisch abzuqualifizieren, heißt die Augen vor einem Phänomen unserer Zeit zu verschließen.
Dass sich die medial angeheizte bürgerliche Empörung der politischen Mitte und des neuen rechten Blocks derweil munter aus dem Baukasten antikommunistischer Hetze bedient und alles in Richtung der politischen Linken adressiert - von der Forderung nach Verbot bestimmter Gruppierungen über die Schleifung linker Zentren bis hin zur imaginierten Säuberung von politischen Parteien und Jugendverbänden - verwundert nicht, trifft aber natürlich keineswegs den Kern dessen, was in Hamburg geschehen ist.
Bei allem verbalradikalen Wahlkampfgetöse steckt darin eine weiterführende diskursive Verschiebung hin zum starken Staat und einer autoritären Aufrechterhaltung des in die Krise geratenen spätkapitalistischen Ordnungsregimes. Denn die Ereignisse in Hamburg schreiben auf einer symbolischen Ebene genau diese Krise - im Fall Deutschlands weniger der Ökonomie als vielmehr des Politischen und der Repräsentation - fort.
Bisher galt der neoliberale Burgfriede in Deutschland als unangreifbar. Hartz-IV-Gesetze, Lohndumping, Abschiebepolitik, autoritärer Rollback: Das alles erzeugte bisher kaum politische oder gesellschaftliche Friktionen. Soziale und politische Bewegungen schienen hierzulande im neoliberalen Konsens zu ersticken, ohne nennenswerte gesellschaftspolitische diskursive geschweige denn hegemoniale Verschiebungen zu erzeugen. Die hiesige politische Klasse konnte beim Durchregieren ihres imperialen Projekts in Europa stets geschlossene Reihen vorweisen.
Wie brüchig - wohlgemerkt auf einer symbolischen Ebene - derartige Ordnungen durch breite Proteste und auch durch das Aufkündigen der sozialen Ordnung in Form von Riots werden können, zeigten auch vergangene Ereignisse wie in Seattle 1999, in London 2011 oder während der Fußball-WM in Brasilien 2012. In einem politischen und ökonomischen Herrschaftssystem, das seine Kraft und sein Funktionieren aus einem alles durchdringenden Alltagsmanagement und einem Standortmarkenkern zieht, der »gesellschaftliche Normalität« für seine Inwertsetzungs- und Regierungspraktiken als Luft zum Atmen braucht, spielen diese symbolische Ebene und die dort sichtbar werdenden Risse im sozialen Ordnungsgefüge eine nicht zu unterschätzende Rolle. Die sonst so souveräne »Deutschland AG« als neoliberales Vorzeigeparadies hat sich in seiner Rolle als Gastgeber eines Aufsichtsratstreffens des globalisierten Kapitalismus in Hamburg bis auf die Knochen blamiert. Wie weh das einigen tut, zeigt die anti-linke Mobilmachung, in der vom Extremismusforscher bis zum schäumenden reaktionären Politiker alles aufgeboten wird.
Eine Verklärung des differenzierten und breiten Protestgeschehens in Hamburg von linksradikaler Seite zu einem die Grundfesten des Systems erschütternden »Aufstand« sollte jetzt aber vermieden werden. Passiert ist das, was die völlig überforderte Polizei bei all ihrer Unfähigkeit zuließ. Das bedeutet im Zuge großflächiger Straßenabsperrungen auch, protestierende Massen zu kanalisieren und notfalls temporär einen Bereich außerhalb des polizeilichen Zugriffs zu erzeugen.
Aber die finale Aufstandsbekämpfung in Hamburg mittels mit Maschinenpistolen ausgerüsteter Spezialeinheiten, die mit Freigabe des Schusswaffengebrauchs ins Schanzenviertel einrückten, stellt einen Dammbruch dar, der gar nicht stark genug betont werden kann, und zeigt, dass die gewaltmonopolistische Staatsmacht die Eskalationsschraube immer weiterdrehen kann.
Als vor dreißig Jahren die GSG9 bei einer Räumung in Wackersdorf anwesend war, wurde sie letztlich nicht eingesetzt, was sicher auch damit zu tun hatte, dass damals im Winter 1985 vor allem friedliche Waldbesetzer bei kaum Gegenwehr durchs Unterholz geprügelt wurden. Angesichts des polizeilichen Einsatzes in Hamburg wird aber auch klar, dass der viel beschworene Aufstand als bewegungspolitischer Fetisch riotaffiner Linksradikaler und als Operationsmodus einer spontan ausagierenden kritischen Masse im urbanen Raum definitiv seine Grenzen hat.
Bei aller Kritik, mit der die teils vorherrschende Begeisterung für den Aufstand reflektiert werden sollte, ist es dennoch faszinierend zu beobachten, wie dieselbe Journaille, die vor einigen Jahren das aus Frankreich stammende Manifest »Der kommende Aufstand« als popkulturelles Kleinod bejubelte und jetzt angesichts der Bilder in Hamburg zu keiner differenzierten Analyse mehr fähig ist. Dabei würde dies Not tun, schließlich kommt ein gewisses Unbehagen angesichts der Unkontrollierbarkeit der Krawalle und der daran beteiligten Akteure aus ganz unterschiedlichen Richtungen.
»Über das politische Konzept des Insurrektionalismus wird kritisch zu reden sein, das zwar den Hunger nach Rebellion bedient, aber von dem eben keine Hoffnung und keine Solidarität ausgeht«, schreibt die Interventionistische Linke zu den Anti-G20-Protesten. Ob der Insurrektionalismus als eine Art Theorie-Praxis-Klammer den Aktionsmodus unterschiedlicher Gruppen aus ganz Europa und spontan dazugekommenen Bewohnern aus verschiedenen Kiezen Hamburgs mit sehr unterschiedlichen Dynamiken und inhaltlichen Ausrichtungen bzw. Intentionen wirklich fassen kann, bleibt letztlich unklar.
Nur sollte dieser Vorwurf nicht in Gänze gegen eine militante radikale Linke gehen, die sich auch anders verhielt - wie einige Gewerbetreibende aus dem Schanzenviertel in einer Stellungnahme versichern, in der sie schreiben, dass »gut organisierte, schwarz gekleidete Vermummte teilweise gemeinsam mit Anwohnern eingeschritten sind, um andere davon abzuhalten, kleine, inhabergeführte Läden anzugehen.« Vom zuvor erwähnten »Unsichtbaren Komitee«, das in seinem Theorie-Bestseller »Der kommende Aufstand« dieses sozialpolitische Phänomen der eruptiven politischen und sozialen Proteste zu fassen versuchte und es dabei auch mitunter unangenehm verklärte, erscheint bald ein neuer Band mit dem Titel »Jetzt« als Reaktion auf die jüngsten Protestereignisse in Frankreich, wo es am Nationalfeiertag wieder reichlich Krawalle gab. Die Taktung, wie gesagt, wird kürzer.
Um die Ereignisse in Hamburg zu verstehen, gilt es sehr verschiedene bewegungspolitische und soziale Elemente und ihre gegenseitigen Rückkopplungseffekte zu berücksichtigen. Denn der Hamburger Aufstand wurde eben nicht nur von einer zum Teil angetrunkenen Meute hooliganistischer Namenloser ausgeführt, sondern auch von den Tausenden engagierten Blockierern, die sich in Richtung Hafengelände aufmachten und die Verkehrswege der Hansestadt lahmlegten. Die entgrenzte Polizeigewalt über Tage hinweg spielt ebenfalls eine kaum zu unterschätzende Rolle bei den Ereignissen.
In Hamburg traf ein hochgradig organisierter politischer Protest auf eine spontane soziale Explosion. Das unterscheidet die Ereignisse auch von dem, was im Sommer 2011 in London passierte, wo eine derartige politische Komponente fehlte oder nur marginal vorhanden war. Es sollte aber auch nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Krawalle in London 2011 mit einer polizeikritischen Demonstration ihren Anfang nahmen.
Sich bezüglich Hamburg nun in simplen Schuldzuweisungen und reflexartigen Distanzierungen zu ergehen, bringt eine stimmige Analyse der Ereignisse nicht voran und politisch auch nicht sinnvoll. Hamburg war sicher nicht das letzte derartige Ereignis. Ob die eingangs erwähnten Historiker der Zukunft im Hamburger Aufstand dann eine tief gehende Zäsur erkennen, wie sich das viele linksradikale Aktivistinnen aktuell wünschen, oder nur die Fortschreibung eines sozialpolitischen Phänomens zu Beginn des 21. Jahrhunderts, das nun auch die Bundesrepublik erreicht hat, muss sich erst noch erweisen.
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