Deutschland verlässt widerwillig den Strand

Neuausrichtung der Türkeipolitik bleibt im Vagen, sicherer Verlierer ist bisher nur die Wirtschaft

  • Uwe Kalbe
  • Lesedauer: 4 Min.

Partner oder Gegner? Die Türkei ist jetzt irgendwie beides. Für den Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz wird diese Zwitterstellung nicht ungewöhnlich sein, vermutlich behandeln sich auch verbündete Geheimdienste immer misstrauisch und kooperativ zugleich. Jedenfalls hielt Hans-Georg Maaßen das Bekenntnis auf einer Veranstaltung am Freitag in Berlin offenbar für an der Zeit: Man behandele die Türkei spätestens seit dem Putschversuch im letzten Sommer nicht nur als Partner, sondern »mit Blick auf Einfluss-Operationen in Deutschland auch als Gegner«.

Gegnerisch klingen auch die Schlagzeilen, die derzeit zu lesen sind: »Bei uns ist die Justiz unabhängig, Hans«, titelte die Zeitung »Türkiye« am Freitag. »Hans« ist für Präsident Recep Tayyip Erdogan ein gern genutztes Synonym für »den Deutschen«. Auf der ersten Seite des »Star« fanden sich Fotos des Journalisten Deniz Yücel und des gleichfalls inhaftierten Menschenrechtlers Peter Steudtner als Illustrationen zur Schlagzeile: »Neues EU-Kriterium: Freiheit für Agenten«. Die »Bild«-Zeitung goss ihrerseits Öl ins Feuer: »Türkei-Krise: Verhaftet Erdogan jetzt auch Urlauber?« Ein empörtes Echo der türkischen Politik war ihr am gleichen Tag gewiss.

Während Peter Steudtners Berliner Kirchengemeinde um ihr langjähriges Mitglied bangt und ankündigte, nunmehr regelmäßig in der Gethsemanekirche für seine Freilassung beten zu wollen, bangt die deutsche Wirtschaft wegen der Folgen, die die »Neuausrichtung« der deutschen Politik gegenüber Ankara haben wird. Nach der Ankündigung von Außenminister Sigmar Gabriel am Donnerstag, die Hermes-Bürgschaften »auf den Prüfstand« zu stellen, befinden sich die über 6000 in der Türkei angagierten Unternehmen gleichermaßen im Dilemma. Öffentliche Ablehnung der türkischen Politik oder Wahrung der eigenen Interessen? Hermes-Bürgschaften sichern deutsche Unternehmen bei Investitionen im Ausland mit staatlichen Mitteln ab; Verluste werden erstattet. Aus dem Rückgang dieser Bürgschaften im letzten Jahr von zwei Milliarden auf 1,2 Milliarden Euro folgerte Michael Fuchs, Wirtschaftspolitiker der CDU, im Deutschlandfunk, dass die Wirtschaft bereits ihre Schlüsse zog und vorsichtiger geworden ist. Die Exporte sanken um zwei Prozent auf 21,9 Milliarden Euro - bei einem Handelsvolumen von insgesamt 37 Milliarden Euro. Zum Teil sei dies aber auch ein Ergebnis des verteuerten Exports deutscher Waren, weil die türkische Lira an Wert verlor. Volker Treier, Außenwirtschaftschef des Deutschen Industrie- und Handelskammertages, erwartete im Deutschlandfunk einen Rückgang der Exporte in die Türkei von zehn Prozent. Gabriels Ankündigungen nannte er immerhin einen »notwendigen Schritt«.

Die Opposition verlangt freilich viel mehr Härte, als die Bundesregierung bisher an den Tag zu legen bereit ist. Vor allem sind es die Rüstungsexporte, die ihr ein Dorn im Auge sind und die etwa die Grünen-Politikerin Claudia Roth, Vizepräsidentin des Bundestages, als Verstoß gegen die deutschen Exportrichtlinien betrachtet. Die LINKE lehnt solche Exporte ohnehin ab. Allerdings unterliegen Rüstungsexporte in ein NATO-Land keinen Beschränkungen. Die Möglichkeit einer Beschränkung, wie sie aus dem Bundeswirtschaftsministerium am Freitag bestätigt wurde, bleibt bisher vage. Die Bemerkung von Kanzleramtsminister Peter Altmaier (CDU) im ZDF-Morgenmagazin, man werde zu jedem Zeitpunkt prüfen, ob weitere Beschlüsse notwendig sind», dürfte eher ein Hinweis darauf sein, dass keine aktuellen Anträge vorliegen. Der Bundessicherheitsrat, dessen Zustimmung Voraussetzung jedes Rüstungsexports ist, tritt bis zur Bundestagswahl gar nicht mehr zusammen. Viel Prüfstand, wenig Konkretes also. Immerhin kündigte Altmaier an, die Bundesregierung werde auf die EU-Partner einwirken, dass die sogenannten Vorbeitrittshilfen, also die beträchtlichen Mittel, die Ankara als Beitrittskandidat erhält, auf Eis gelegt werden. Die Türkei erhält von 2014 bis 2020 rund 4,45 Milliarden Euro.

Für ein wenig Ablenkung des Zorns von Ankara sorgte Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU), indem er seine Assoziationen mit den Verhaftungen in der Türkei öffentlich machte und dabei Erinnerungen an die DDR bemühte. «Die Türkei verhaftet inzwischen willkürlich und hält konsularische Mindeststandards nicht ein. Das erinnert mich daran, wie es früher in der DDR war», sagte Schäuble der «Bild»-Zeitung. «Wer dort gereist ist, dem war klar: Wenn dir jetzt etwas passiert, kann Dir keiner helfen.» Auch die Türkei sei für deutsche Touristen zum Risikoland geworden. Dass Schäuble nicht mehr zu helfen ist, so weit ging Egon Krenz, befragt von der Deutschen Presse-Agentur, nicht. Der letzte DDR-Staats- und Parteichef nannte den Vergleich nur absurd. «Genau so absurd, wie der Vergleich der Bundesrepublik mit dem Nazireich durch Erdogan».

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -