Ob es eine Linke braucht
Über eine Kontroverse der Soziologen Armin Nassehi und Stephan Lessenich - und die Frage, wie es um bürgerliche Selbstzweifel steht
»Hör auf hier zu predigen«, diese Liedzeile von Herbert Grönemeyer dürfte zumindest der nicht mehr ganz so junge Teil der Gesellschaft kennen, »hör auf mit der Laberei«. Das Zitat findet sich am Ende von Stephan Lessenichs Replik auf den Soziologen Armin Nassehi - und es geht in der Debatte um nichts Geringeres als die Frage, ob es »eine Linke braucht«.
Da mag man ein bisschen Predigt und Laberei natürlich immer noch besser finden als gar keine Kontroverse. Und es ist ja so: Was da durchaus als Selbstverständigung unter Progressiven wirken kann, weil ein paar Fragen aufgeworfen werden, um deren Antworten man sich sonst gern drückt, beschäftigt ja auch andere gesellschaftliche Lager.
Aber zunächst einmal zu Lessenich und Nassehi - der eine hatte vor ein paar Tagen unter dem, nun ja: auch etwas effekthascherischen Titel »Eine Linke braucht es nicht mehr« einiges an Kritik abgeladen. Die Linke, bei Nassehi doch eher wie ein monolitischer Block erscheinend, tendiere zur Unfähigkeit, die Komplexität der gesellschaftlichen Verhältnisse zu begreifen, in der systemüberwindenden Idee des Antikapitalismus lauere das Autoritäre, und überdies wolle die Linke nicht zur Kenntnis nehmen, »dass es der globalisierten Welt noch nie so gut ging wie heute«. Mithin gehe es nicht um Überwindung von irgendwas, sondern um noch intelligentere Steuerung.
Wundersame Weltverbesserungsmaschine
Lessenich kontert seinen Kollegen nun mit einer ähnlich großen Geste: »Wer die real existierende politische und kulturelle Linke auch nur ansatzweise aus der Nähe kennt, reibt sich verwundert die Augen«, schreibt also da der andere Soziologe. Weder sei Nassehis Bild der Linken in irgendeiner Weise stimmig, noch die Behauptung, der globalisierte Kapitalismus sei eine einzige, große, wundersame Weltverbesserungsmaschine.
Natürlich kommt Lessenich auf seinen aktuellen Punkt zu sprechen, die »Produktion und Reproduktion krass ungleicher Lebensverhältnisse« im weltweiten Vergleich, die nicht nur mit »einer historisch einzigartigen Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit« einhergeht, sondern auch mit schwierigen Fragen für die Linken - etwa nach den Widersprüchen der Ungleichheit, in der mitgedacht werden müsse, dass der Arme im globalen Norden immer noch von der viel schlimmeren Armut derer im globalen Süden profitiert.
Lessenich verteidigt die Lust an der Utopie und das Streben nach Transformation gegen Nassehi, den er als Beschwörer einer Gelassenheit zurückweist, für die es keinen Grund gibt. So weit, so gut. Es ist aber noch eine andere Ebene in diese Kontroverse eingewebt - eine, die das Selbstverständnis »der Bürgerlichen« betrifft. Der Begriff ist wahrscheinlich genauso sinnvoll wie der »der Linken«, also gar nicht, aber Lessenich kommt direkt darauf zu sprechen, die bisweilen hoch aggressive, den Weg ins Autoritäre weisende Erregtheit nach der G20-Randale bewegt den Kritiker dabei ebenso wie die ins absolute reichende Absage an alles Linke.
Ideologische Ordnung wieder hergestellt
Nassehis »Eine Linke braucht es nicht mehr« steht für Lessenich pars pro toto: Hatten selbst bürgerliche, konservative, rechtsliberale Köpfe nach dem großen Kriseneinbruch ab 2007 bekannt, es könne ja doch sein, dass die Linke recht habe - mit ihrer politisch-ökonomischen Analyse, mit der Unbedingtheit, mit der Ungleichheit, obszöne Reichtumsanhäufung zusammengebracht wurden mit Gefahren für Demokratie und Gemeinwesen -, sei es, so Lessenich, nun »mit bürgerlichen Selbstzweifeln wieder vorbei«. Mehr noch: »Wenige Jahre nach der Glaubenskrise bürgerlicher Intellektueller, nur ein halbes Jahrzehnt einer kaum minder enthemmten Finanzmarktökonomie später scheint die ideologische Ordnung wieder hergestellt zu sein.«
Lessenichs Kritik an Nassehi trifft wichtige Punkte, darunter den, dass die Kritik am autoritären Geist utopischer Denker von links - so sinnvoll diese Sensibilität ist - eher wenig Interesse aufbringt »für den autoritären Gehalt faktischer Politik«. Oder der damit zusammenhängende Hinweis, dass im ständigen Hinweis auf die Komplexität der Welt immer auch eine Absage an ihre politisch gewollten Veränderungen schwingt und damit das Ende von demokratisch legitimierten Spielräumen, auch einmal was grundlegend anderes zu machen. Für Lessenich ist Nassehis Argumentation also ein Beispiel dafür, »wie man aus der Not der Selbstdesillusionierung bürgerlichen Denkens eine Tugend macht – indem man nämlich die gesellschaftspolitische Illusionslosigkeit zum Programm erklärt«.
Hier kommt die Replik ein wenig ins Schlingern, jedenfalls lassen sich »Selbstdesillusionierung« des bürgerlichen Denkens und das Ende der »bürgerlichen Selbstzweifel« nicht so ohne Weiteres zusammenzubringen. Zumal eine parallel laufende Diskussion das Bild ergänzt: die von einem »Merkur«-Text des Staatsrechtlers Christoph Möllers angestoßene Debatte über das Politikverständnis der bürgerlichen Bürger, in dem unter anderem deren Vertrauen in unpolitische Institutionen, die das »sachlich Notwendige« tun und dabei vor dem (implizit als unvernünftig angesehenen) Wollen von Mehrheiten schützen.
Rationalnationalismus und politikfernes Bürokratievertrauen
Möllers, der in seinem Text noch einige andere Dinge streift, etwa wie mit dem bürgerlichen Vertrauen »in politikferne Institutionen: in eine qualifizierte und neutrale Bürokratie, eine unabhängige Justiz, in ein moderates politisches und ökonomisches Establishment« das Politische selbst in die Defensive kommt, etwa in der Distanz zu Parteien und in einer individualistischen Selbstdefinition. Möllers spricht auch von einem »Rationalnationalismus« der Mitte, bei dem die Überzeugung, dass eben jene »politikfernen Institutionen« hierzulande so viel besser, effizienter, erfolgreicher seien, einen bürgerlichen Stolz speist, der dann dazu dient, »sich über andere Länder, bemerkenswert häufig über andere europäische Länder, zu erheben.«
Man könnte also sagen: Es gibt durchaus noch so etwas wie bürgerliche Selbstzweifel. Und es gibt vielleicht noch etwas anderes, das mit Lessenichs Text in Verbindung steht: eine kleine Renaissance kritischer Sozialwissenschaft. Lessenich formuliert an einer Stelle polemisch, Nassehi würde es wohl gut gefunden haben, wenn junge Menschen, statt linken Idealen hinterherzulaufen, »Soziologie studiert« hätten, »dann wären ihnen diese Veränderungsblütenträume schon ausgetrieben worden«.
Die Möglichkeit von Utopien
Dabei könnte man mit Heinz Bude sagen, die Sozialwissenschaft ist gerade dabei, wieder ein bisschen in die Offensive zu kommen. Die Wissenschaft habe »unter der Deutungsdominanz der Ökonomen 20 Jahre lang ein relativ unwichtiges Dasein gefrönt«, hat Bude unlängst seinen Eindruck geschildert. »Die Soziologie hat sich lange nicht von der Idee erholt, dass es so etwas wie Gesellschaft gar nicht gibt, sondern nur Individuen, die rationale Übereinkünfte treffen.« Die Klassenfrage und die Frage der Ungleichheit seien »zurückgekommen. Die Soziologie muss auch theoretisch umstellen, um diese Fragen auf interessante Weise zu beantworten.«
Das betrifft dann ja auch das Selbstverständnis einer Forschung, die nicht nur abbildet, sondern auch über Veränderung nachdenkt. In der neueren Debatte über die Nützlichkeit des Begriffs »strukturelle Gewalt« spielte das ebenfalls schon eine Rolle. Wo das Problem liegt, darauf hat der Marburger Soziologe Markus Schroer hingewiesen: in einer Soziologie, »die tief verunsichert ist - verunsichert über ihre normativen Maßstäbe, über den Stellenwert soziologischer Gesellschaftskritik, über die Möglichkeit von Utopien«. So eine Verunsicherung kann aber auch überwunden werden. Nichts zuletzt werden Debatten wie jene zwischen Lessenich und Nassehi einen Beitrag dazu leisten können.
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