Als Kassel Klein-Hollywood war
Was auch immer an Documenta-Kunstwerken die Stadt kurzweilig prägt, die Architektur der Fünfzigerjahre gibt der Stadt Beständigkeit
Die Maße des Stars der 14. Documenta sind beachtlich: 70/30/100 000. 70 mal 30 Meter groß ist der «Parthenon of Books», ein aus 100 000 Büchern bestehender griechischer Säulentempel - errichtet als Link zur erstmaligen Documenta-Partnerstadt Athen und Mahnmal gegen weltweite Zensur auf dem Kasseler Friedrichsplatz. Wie dieses Kunstwerk auch, werden die meisten nach Ende der Documenta rückstandslos entsorgt. So ist es Vorschrift, damit Kassel nicht zur Resterampe der internationalen Art-Szene wird. Nur 16 Evergreens früherer Documentas hat sich die Stadt gesichert. Die seit 1982 am Fulda-Ufer zwölf Meter hoch aufragende Spitzhacke von Claes Oldenburg etwa oder die vorm alten Bahnhof eine schräge Stange hinaufstrebende Figur «Man walking in the Sky (1992), von Einheimischen »Himmelsstürmer« getauft.
Ob während einer Documenta oder zwischendurch - stets rahmt Kassel die Installationen und Skulpturen im Stadtbild auf besondere Weise ein: Mit rechteckigen Fassaden, vielerorts auch Straßenverläufen und tragflächenartigen Flugdächern. Zusammen ergeben sie die prägenden Linien für ein Architekturensemble der Fünfzigerjahre, das so dominant, so kompakt in keiner deutschen Stadt erhalten ist. Und bei jeder Documenta zudem eine Verbindungsachse bildet zwischen ihrem Zentrum und dem Himmelsstürmer: Denn dazwischen verläuft die 275 Meter lange Treppenstraße, 1953 als erste Fußgängerzone Deutschlands eröffnet. Noch heute ein enger Boulevard über mehrere Plateaus, verbunden durch 104 Treppenstufen, die gut 15 Meter Höhenunterschied überwinden. Reduziert arrangiert mit Blumenbeeten, Brunnen und Sonnenschirmen, beidseits gesäumt von geduckten Ladenzeilen - ein typisches Beispiel der Fünfzigerjahre-Bescheidenheits-Architektur, die sich dann zum Ende hin am Scheidemannplatz noch mäßig aufstrebende Kontrapunkte als Abschluss gönnt: zwei Hochhäuser mit Fassaden, so kassettenartig gleichmäßig, als seien sie in einem Waffeleisen produziert worden.
Wer durch Kassel schlendert, entdeckt noch einige davon, etwa am Gerichtsgebäude beim Ständeplatz oder am Nordsternhaus in der Friedrich-Ebert-Straße - alles Zeugnisse der sich damals in Deutschland immer mehr durchsetzenden Stahlbetonskelettbauweise. Sie ermöglichte es, vor allem Verwaltungsgebäude zunächst als hoch aufragende, gleichförmige Gerippe zu errichten, um diese dann fertig auszubauen - mit feingliedrigen Fensterprofilen, oft aus Messing. Vielfach rau verputzt sind sie heute noch immer - wie in den Fünfzigern üblich - pastellfarbig gestrichen, von eierschalweiß und vanille-beige über mintgrün bis hellblau.
Ein paar Autos umparken, aktuelle Reklameschilder von Häusern abschrauben - viel mehr müssten Filmproduzenten heute wohl nicht ändern, wollten sie hier einen Film über die Fünfziger drehen. Und sie würden damit die Zeit wiederbeleben, als Kassel so etwas wie Klein-Hollywood in Deutschland war: Bis Mitte der Fünfzigerjahre schon so weitgehend und so modern wieder aufgebaut, wie kaum eine andere Stadt, war diese Kulisse ideal für Außenaufnahmen von Kinoklamotten wie »Natürlich die Autofahrer« und »Der letzte Fußgänger« mit Heinz Erhardt ebenso wie für den bissig-ironischen Spielfilm »Rosen für den Staatsanwalt« mit Martin Held, Inge Meysel und Ralf Wolter oder das Dramolett »Nachtschwester Ingeborg« und die Comic-Verfilmung »Nick Knatterton« mit Karl Lieffen und Gert Fröbe.
Drehort war oft die Treppenstraße. Was die damalige Lokalzeitung »Hessische Nachrichten« etwas übermütig kommentierte: »Die Atelierszenen sind zwar in Göttingen entstanden, doch das Großstadtflair borgt man sich in Kassel aus.« Premierenflair allerdings hatte die Stadt wirklich, vor allem im 1955 eröffneten Hotel »Reiss«. Gegenüber am Hauptbahnhof kamen damalige Stars wie Heinz Rühmann, Hildegard Knef, Heinz Erhardt, Hans Moser, Theo Lingen, Maximilian Schell, Alice und Ellen Kessler, Joachim Fuchsberger, Christine Kaufmann oder Johannes Heesters an, wurden oft von tausenden Schaulustigen begrüßt, um dann über den roten Teppich in den Hotelballsaal zu entschwinden. Ihn schließt die Rezeptionistin des Hotels auf Nachfrage heute gern Besuchern auf, und kaum steht man drin in diesem plüschroten XXL-Karton mit Wandlampen und Stempelsäulen, schon läuft sie vorm inneren Auge ab, so eine Premierenfeier mit livriertem Conferencier und brav dienernden Darstellern in Frack und mit Dauerwelle.
Kassel hat jede Menge solcher Türen, hinter denen Schätze der Fünfzigerjahre schlummern, nicht selten an Documenta-Spots. Das Gloria Kino etwa - mit geschwungenem Schreibschrift-Neon-Schriftzug überm Eingang, Nierentischen im Foyer und komplett lindgrünem 300-Plätze-Saal inklusive strengem Faltenrockvorhang liegt an der Friedrich-Ebert-Straße, der Feiermeile vieler Documenta-Künstler und -Besucher. Oder das Hotel Hessenland: Im Foyer schraubt sich die freitragende Treppe um eine Neonstele herum hoch in den ersten Stock und erinnert dabei in ihrer Dynamik an einen Petticoat, der beim Tanz herumwirbelt. Nachträglich hineininterpretierte Assoziation? Keineswegs! Architekten der Fünfziger haben die Aufbruchsstimmung dieser Jahre vielfach in spiralförmig aufwärts strebenden Treppen mit geschwungenen Handläufen ausgedrückt - in Kassel bis heute zu sehen und zu begehen auch im ehemaligen Haus der Wirtschaft am Ständeplatz und im AOK-Haus am Friedrichsplatz, da, wo sich heute alle Documenta-Wege kreuzen und wo die Kunstschau vor gut 60 Jahren fast zufällig begann.
Die Bewerbung zur Bundeshauptstadt war 1949 gescheitert, vielleicht wollte das zu 80 Prozent zerstörte Kassel auch deshalb dem Rest der Republik zeigen, dass es sich ganz schnell und sehr modern wieder aufbaut - weg von historisierendem Mittelalterfachwerk und monumentalem Naziprotz hin zu leichter, zukunftsweisender und vor allem verkehrsgerechter Stadtplanung, wie es damals mit Blick auf die aufkommende Motorisierung hieß. Ob als Trostpflaster für den entgangenen Hauptstadttitel oder als Belohnung für so viel Modernisierungsfleiß - die Politik schenkte Kassel neben dem Bundessozialgericht und dem Bundesarbeitsgericht - das nach 1990 nach Erfurt verlegt wurde - auch die Bundesgartenschau 1955. Für letztere schlug der Kunsterzieher Arnold Bode als Ergänzung eine Kunstschau vor, die vor allem Werke zeigen sollte, die von den Nazis als »entartet« verfemt worden waren. Feininger, Klee, Kandinsky, Picasso, Miro und mehr als 140 andere Künstler stellten im noch weitgehend zerstörten Museum »Fridericianum« aus, auf nackten Betonböden und vor unverputzten Ziegelmauern - unter dem Titel »Documenta 1«. Mehr als 130 000 Besucher kamen - ein Überraschungserfolg und erster Schritt hin zur Documenta-Stadt - wie sich Kassel heute nennt.
Infos
www.kassel.de
Infos zur Documenta 14 (10.6. bis 17.9.2017:
www.documenta.de.
Geführte Touren:
Wer Kassels Architektur nicht auf eigene Faust erlaufen möchte, kann sich der Führung von Sylvia Stoebe anschließen. Die Privatdozentin für Architektur an der Uni Kassel zeigt im Rahmen ihrer ein- bis zweistündigen Innenstadtrundgänge alle wichtigen Gebäude, Straßen und Plätze der Fünfzigerjahre. Termine auf Anfrage unter E-Mail: sylvia.stoebe@uni-kassel.de
Literatur:
Ein sehr unterhaltsamer Reiseführer zur Documenta ist unter dem Titel »Ist das Kunst oder kann das weg?« bei DuMont neu aufgelegt worden, 9,49 Euro.
Anreise: Per Bahn zum ICE-Bahnhof Kassel-Wilhelmshöhe, von dort per Straßenbahn ins Zentrum.
Mit dem Pkw ist Kassel über die Autobahnen A 7 und A 44 gut erreichbar.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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