Der grünste Kopf Deutschlands
Wohin will dieser Mann? Leo Fischer über Boris Palmer und sein Buch »Wir können nicht allen helfen«
Es gibt verschiedene Arten von Stille. Eine leere Autobahn wirkt in all ihrer Ruhe immer noch phantomlaut am Hörnerv; umgekehrt gilt ein tosender Wasserfall vielen als Inbegriff ungestörter Harmonie. Eine besondere Art der Stille ist es auch, die den grünen Oberbürgermeister Tübingens, Boris Palmer, umgibt: Stets ist gewaltiger Lärm um ihn, obwohl genau genommen keinerlei Bewegung stattfindet.
Diese Art Stille ist jetzt Buch geworden und heißt »Wir können nicht allen helfen - Ein Grüner über Integration und die Grenzen der Belastbarkeit«. Es ist als Manifest zur Zuwanderungspolitik gemeint, doch hilft es auch, den Menschen Boris Palmer zu verstehen. Einen Menschen, der etwa eine Gruppe junger Männer fotografiert, die nichts weiter getan haben, als keine Tickets im Rucksack und die falsche Hautfarbe am Körper zu haben: »Ist es rassistisch, das zu beschreiben? Ist es fremdenfeindlich, sich dabei unwohl zu fühlen?« Suggestivfragen der Marke Palmer sind schnell beantwortet: Wer sich über Schwarzfahrer aufregt, hat meist keine anderen Sorgen; wer sich ausschließlich bei dunkelhäutigen Schwarzfahrern unwohl fühlt, ist selbstverständlich Rassist; wer sie aber auch noch für Facebook fotografiert, für dessen Zustand wird eventuell schon medizinisches Vokabular relevant.
Der Chef der »grünsten Stadt Deutschlands« (Eigenwerbung Palmer), der den Duktus des ramenternden Opas mit dem jugendlichen Charme eines Fielmann-Angestellten verbindet, sprengt alle Grenzen. Palmer gratuliert AfD-Vorsitzenden nach Fernsehdiskussionen, Palmer baut Flüchtlingsheime um geschützte Obstbäume drumherum. Palmer will gehört werden, auch wenn die Grünenspitze ihre Ohren verschließt. Freundliche Ratschläge, wie der der Parteifreundin Canan Bayram (»einfach mal die Fresse halten«), haben ihn auch vor diesem Buch nicht geschützt.
Vorgeblich möchte es »die praktische Sicht eines Oberbürgermeisters« in der Flüchtlingsfrage darstellen, in Wahrheit geht es Palmer vor allem um Palmer. Er, der missverstandene Diplomat, durch unzählige Shitstorms, ja Shitgewitter gegangen, empfiehlt sich als ehrlicher Makler zwischen abgehängten AfD-Wählern und abgehobenen Grünbürgern; als Pragmatiker und Realist, der mit Max Weber zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethikern unterscheidet wie sonst nur der Schülersprecher bei der Abi-Rede. Natürlich stellt sich der Macher Palmer eher als Verantwortungsmensch dar - nach Lektüre des Buchs lässt sich so etwas wie Gesinnung bei Palmer auch nur mehr schwer vermuten.
In den einleitenden Kapiteln überrascht Palmer, der Verwaltungschef einer mittelgroßen Stadt, als versierter Geopolitiker: »Unsere Freiheit und unseren Wohlstand können wir nur erhalten, wenn wir sie einer sehr großen Zahl von Menschen, die danach streben und in unser Land kommen wollen, vorenthalten.« Wo »Millionen« von den »Schlachtfeldern« der Welt zu uns drängen, »wo es kein Gut und kein Böse, kein richtig oder falsch gibt, sondern nur unterschiedliche Grade, sich schuldig zu machen an Mitmenschen, die der Hilfe bedürfen«, da steht Palmer als existenzialistischer Held: Moral existiert nicht, Gott ist tot! Wir müssen eh Leute im Mittelmeer ersaufen lassen, die Frage ist, wie viele; diese Wahrheit auszuhalten, und dabei anständig zu bleiben, dies gelingt Palmer in schon sagenhaft herrenmenschlicher Attitüde. Jederzeit bereit, mit uns über »die absoluten Todeszahlen« zu diskutieren, steht Palmer als Schutzmann an der Rampe zum Paradies Europa; ein Todesengel in Gummistiefeln, willens, über den Tod von Menschen so hemdsärmelig und zackig zu entscheiden wie über den Neubau eines Einkaufszentrums. Das können nicht viele von sich sagen.
Nach diesen hohen Tönen geht es ins Kleinklein; denn Weltpolitik lässt sich auch mit Gschichterln aus dem Gemeinderat erklären. Wehleidig erklärt uns Palmer, wie schwer es war, in Tübingen Flüchtlinge zu versorgen angesichts des deutschen Paragraphendschungels, der voll von bizarren Forderungen ist wie etwa der, Flüchtlingsheime erdbebensicher zu bauen: »Die meisten Geflüchteten kommen aus Gegenden der Welt, in denen Erdbeben viel häufiger und und schwerer und die Häuser viel weniger stabil sind als bei uns.« Doppelt ärgerlich ist das, wenn die Schutzbefohlenen sich noch als undankbares Pack erweisen: »Wie kommt es, dass Menschen, die in unserem Land Aufnahme finden, weil sie vor Krieg fliehen, nach wenigen Tagen Proteste organisieren? (...) Mir bleibt diese bei einer tonangebenden Minderheit der Flüchtlinge verbreitete Anspruchshaltung, verbunden mit der Bereitschaft, selbst ziemlich schnell Probleme mit Alkohol, Gewalt und mangelnder Hygiene zu schaffen, leider bis heute unerklärlich.« Diese Flüchtlinge! Angst vor Erdbeben haben, aber besoffen und stinkend randalieren - man merkt, wie schwer Palmer sein Beruf fallen muss.
Ein ganzes Kapitel ist der »Ausländerkriminalität« gewidmet, über die er selbstverständlich nüchtern und objektiv sprechen möchte, dann aber Statistiken generell ablehnt; es geht auf dem Niveau von »ein befreundeter Arzt hat mir erzählt« weiter. Verfehlt wäre es, Palmer einen generellen Antiintellektualismus und Antimoralismus vorzuwerfen - er will sich nur eben nicht ständig von irgendwelchen Eierköpfen in sein unentwegt topverantwortliches Handeln hineinjammern lassen.
Immer wieder wird betont, man dürfe die Zuwanderer nicht stigmatisieren, um sie im nächsten Absatz als Personen »ohne jedes Unrechtsbewusstsein« abzuhandeln. Im Kapitel »Lösungen« fällt als erstes das Beispiel Schwäbisch Gmünd, wo Flüchtlinge am Bahnhof für eine Handvoll Euro Koffer tragen durften und ein rühriger Capo ihnen bedarfsweise die »Ohren langziehen« wollte.
Die Flüchtlingsfrage ist aber für Palmer letztlich zweitrangig. Viel wichtiger ist ihm die Person Palmer selbst, und den teils ungerechten medialen Umgang, den sie erdulden muss. Fast die Hälfte des Buchs ist den Shitstorms gewidmet, die der Autor angezettelt hat und nun recht scheinheilig beklagt; ohne sie fände Boris Palmer schließlich nur im Tübinger Amtsblatt statt. Deswegen ist es auch ein bisschen ungnädig, wenn Palmer über seine Kritiker schimpft, sie gar Steigbügelhalter der AfD heißt: »Ich kann mittlerweile sehr gut nachvollziehen, dass viele Menschen sich solchen Shitstorms nicht aussetzen wollen. Und es ist für mich plausibel, dass nicht wenige das als den Versuch der Bevormundung empfinden und in der Wahlkabine dagegen protestieren.« Kurz: Shitstorms sind schuld an der AfD; wer Nazis Nazis nennt, ist schuld an Nazis, schließlich führe das zu einer »Stigmatisierung eines nicht ganz kleinen Teils unserer Gesellschaft«. Das heißt, ab einer bestimmten Anzahl können die Leute gar keine Nazis mehr sein, weil Nazis ja per Definition eine Minderheit sind. Sobald sie in der Mehrheit sind, sind sie keine Nazis mehr.
Palmer, der Bezeichnungen wie »Mohrenkopf« und »Schlitzaugen« verteidigt, wünscht sich gleichzeitig einen zivilisierten Umgang untereinander; die »Grundregeln des Diskurses« müssen eingehalten werden. Palmer belehrt die Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland über richtige Manieren und korrekte Protestformen; empfiehlt »Gelassenheit« und einen »souveränen Umgang«. Wie immer, wenn Weiße über Schwarze sprechen, akzeptiert Palmer sie als höfliche Bittsteller, nicht als empörte Kämpfer.
Palmer, der die chronische Dämonisierung Israels durch die Wahltübingerin Felicia Langer als »Lebensleistung« würdigte, erinnert nicht nur in diesen Passagen an den cholerischen Dorfschullehrer, der seine Schützlinge zusammenbrüllt, um sich gleich im Anschluss ein sittsames Miteinander zu wünschen. Palmer weiß: Souverän ist, wer über die Lautstärke entscheidet.
Immer wieder impliziert der Autor, man müsse auf AfD-Wähler zugehen, gerade um ihre Ansichten zu ändern. Beispiele, wann ihm das je gelungen wäre, sucht man indes vergeblich. Wer kann sich an eine einzige Position Palmers erinnern, die einen AfD-Wähler herausgefordert hätte? Auch in seinem Buch sieht er »überzogene Abwehrreaktionen« exklusiv im linken Milieu - für die Rechten hingegen braucht es vor allem Verständnis. Man weiß ja, wegen der Mehrheit.
Boris Facepalmer, wie er im Netz genannt wird, lebt in einem Zustand eines ständigen Double-bind: Er kritisiert Homophobie unter Arabern und gleichzeitig die »Lautstärke« von Homo-Aktivisten; er ist gegen racial profiling, außer, die Polizei hat es eilig; er möchte im Netz zu einer zivilisierten Sprache finden und spricht selbst über »politische Vernichtungsversuche«, wenn er Aussagen über die »blonden Töchter« grüner Professoren trifft; er findet Heiko Maas’ Netzwerkdurchsetzungsgesetz richtig und nimmt seine eigene Löschung bei Facebook als »Vorstufe zu einer Zensur« wahr.
Wohin will dieser Mann? Vor ein paar Jahren hätte es noch Aufgaben in der Bundespolitik gegeben, »jetzt ist er wirklich allen lästig«, hört man von Berliner Parteifreunden. Wofür dann dieses Buch, das erkennbar auch eine Art Ehrenrettung sein soll? Teils ist es schon jetzt veraltet: Dass er das Adoptionsrecht für Homosexuelle in der grünen Agenda an den Rand schieben wollte, wirkt angesichts der verwirklichten »Ehe für alle« absurd.
Dieses Buch, schreibt Palmer, sei »ein Bericht aus der laufenden Arbeit. Die Historiker, Politologen und Sozialwissenschaftler werden ihr Bild später nachliefern.« Tatsächlich wirkt das Buch als verlängertes Ego-Posting, angesiedelt zwischen Demut (ich bin ja nur der Bürgermeister) und Größenwahn (Historiker werden über mich schreiben). Natürlich wird er indirekt von den Grünen immer noch gebraucht - als der Spinner, von dem man sich bedarfsweise abgrenzen kann, dessen schwarzgrünen Kurs (das Buch schließt mit Merkels Ausspruch »Wir schaffen das«) man in der Tendenz aber klammheimlich befürwortet. Man wird jedenfalls die Stimmen nicht verschmähen, die er im Ländle zusammenpoltert.
Palmer, der Mann, der Aristoteles und die Abwasserordnung zitieren kann, interessiert sich neuesten Interviews zufolge für die »Herausforderung, in der Wirtschaft etwas zu bewegen«. Die wird sich freuen.
Boris Palmer: »Wir können nicht allen helfen. Ein Grüner über Integration und die Grenzen der Belastbarkeit«. Siedler, 256 S., geb., 18 €.
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