Fundamentale Ungleichheiten

Abstand bei den Löhnen, wirtschaftliche Lage, Selbstverständnis: Warum die »neuen Länder« ein linkes Thema bleiben. Ein Gastbeitrag

  • Jan Korte und Olaf Miemiec
  • Lesedauer: 5 Min.

Der Sommer muss nur noch vorübergehen, dann können wir den 27. Jahrestag der deutschen Einheit begehen. Ein nicht geringer Teil der Wählerinnen und Wähler der LINKEN hat ebenso wie ein Teil ihrer Mitglieder nichts mehr mit der DDR oder auch der alten BRD zu tun. Entweder sind sie nach dem 3. Oktober 1990 geboren oder haben allenfalls noch Kindheitserinnerungen. Es ist daher klar, dass man den Osten anders thematisieren muss als in den frühen 1990er Jahren. Aber ebenso klar ist, dass man ihn thematisieren muss. Das lässt sich anhand fundamentaler Ungleichheiten verdeutlichen. Diese lassen sich auf den Feldern Wirtschaft, gesellschaftliche Macht und Kultur ausmachen.

Erstens, wirtschaftliche Situation. Unbestritten ist, dass die Leistungskraft Ostdeutschlands gegenüber den frühen 90er Jahren deutlich gestiegen ist. Jedoch stagniert sie bei 67 Prozent der Wirtschaftskraft der alten Bundesrepublik. Dafür gibt es sicher viele Gründe, doch dürfte der entscheidend sein, dass sich die ostdeutsche Wirtschaftsstruktur als kleinteilig, zersplittert darstellt. Die ostdeutschen Länder leiden noch immer an der Deindustrialisierung, die infolge der hastigen Währungsunion und der falschen Treuhandpolitik zustande kam. Der niedrigeren Wirtschaftskraft des Ostens entspricht eine deutlich höhere Arbeitslosigkeit, was sich an einer höheren Quote von Hartz IV-Beziehenden zeigt. Ähnliche Ungleichheiten finden wir bei Löhnen und Gehältern, bei Sozialleistungen und Renten, aber auch in der Vermögensverteilung. Im Durchschnitt besitzen Ostdeutsche weniger als Westdeutsche. Anhand dieser ökonomischen Eckdaten ist Ostdeutschland abgehängt.

Gerade bei der Ungleichheit von Löhnen und Gehältern sowie Renten und Sozialleistungen wird häufig argumentiert, dass das so sein dürfe; schließlich seien die Lebenshaltungskosten im Osten niedriger. Dieses Argument ist schon deshalb falsch, weil sich die Lebenshaltungskosten nicht nur entlang der einstigen Staatsgrenze, sondern auch innerhalb der alten Bundesrepublik und innerhalb Ostdeutschlands zum Teil gravierend unterscheiden. Real wird gesagt: Deine Arbeit und Deine Lebensleistung ist weniger wert als die anderer.

Es geht uns nicht um Gleichheit als solche. Es geht uns darum, dass Ungleichheit hier Ausdruck fehlender Anerkennung ist. Übrigens ist jedes Argument, das Ost-West-Unterschiede bei Einkommen rechtfertigt, auch logisch brüchig. Der gesetzliche Mindestlohn, so kritikwürdig er in seiner zu geringen Höhe und auch hinsichtlich des Bestehens von Ausnahmen auch ist, durchbricht diese Logik der Ungleichheit. Er ist in Ost und West gleich. Das gilt jedoch nicht durchgängig bei Branchenmindestlöhnen. Deshalb bleibt DIE LINKE auch bei ihrer Forderung, die Unterschiede zwischen Ost und West bei Löhnen und Gehältern, Renten und Sozialleistungen endlich abzuschaffen. Im 27. Jahr der deutschen Einheit ist das nicht zu viel verlangt.

Zweitens, die sogenannten Eliten. Bereits die PDS sprach viel und gern über ostdeutsche Eliten. Was ist gemeint? Das sind die »Entscheider«, und zwar da, wo es um etwas geht. Gemeint sind also Führungskräfte. In Wirtschaft, Justiz, Politik, Verwaltung, Militär und Medien sind 1,7 Prozent der gesamtdeutschen Führungskräfte Ostdeutsche. Zwar sieht es im Osten ein bisschen besser aus, aber auch im Osten sind ostdeutsche Führungskräfte eine Minderheit: es sind nur 23 Prozent, nicht einmal ein Viertel.

Die Karrierewege Ostdeutscher sind noch immer andere. Auch hinsichtlich der gesellschaftlichen Macht partizipieren Ostdeutsche wenig. Von deutscher Einheit lässt sich daher nur recht formal reden: Es ist eine staatliche Einheit. Eine wirkliche Einheit sähe anders aus, und für die setzt sich DIE LINKE ein. Oder um Gregor Gysi zu zitieren: DIE LINKE ist die Partei der deutschen Einheit.

Aber nicht alle Unterschiede sind gleich schlecht. Das zeigt sich, drittens, kulturell. Wir finden im Osten eine weitaus bessere Versorgung mit Kindertagesstätten, und das kommt einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf deutlich entgegen. Interessant ist auch, dass der Anteil an Frauen in Leitungspositionen im Osten signifikant höher und das »gender pay gap«, die diskriminierende Einkommensdifferenz zwischen Frauen und Männern, sehr viel geringer ist als in Westdeutschland.

Das ist Ausdruck eines anderen geschlechtsbezogenen Rollenverständnisses. Auch wenn man es gern zugestehen würde – das resultiert nicht aus der deutschen Einheit. Hier wirken Sozialisationsformen aus den Zeiten der deutschen Zweistaatlichkeit nach. Zumindest bezüglich des Rollenverständnisses ist der Osten fortschrittlicher geblieben, und das scheint sich auch zu reproduzieren. Hier kommt dem Osten eine Vorbildrolle zu, die mit mehr Selbstbewusstsein vertreten werden sollte.

Selbstbewusstsein ist dringend nötig. Lassen wir uns das nicht bieten, dass Sportlern wie Täve Schur die Aufnahme in die »Hall of Fame« des deutschen Sports nun zum zweiten Mal verweigert worden ist, ist ein demütigender Akt, der sich nicht nur gegen die Person Täve Schur richtet. Er war zumindest zeitweise der beliebteste Sportler in der ehemaligen DDR und schon deshalb ist klar, dass diese Entscheidung viele Ostdeutsche treffen sollte. Hier wird mit zweierlei Maß gemessen.

Auf diese und auf vielfältig andere Weise wird immer wieder das Gefühl erzeugt, dass die Bürgerinnen und Bürger der ehemaligen DDR, darüber hinaus aber auch die Einwohnerinnen und Einwohner der Neuen Länder, Bürgerinnen und Bürger zweiter Klasse seien. Natürlich kann man niemandem vorwerfen, so lange Zeit nach der Herstellung der staatlichen Einheit zu resignieren.

Zu bedenken ist aber, dass Unzufriedenheit immer aufgegriffen werden wird. Entweder es tut die Rechte, dann wird Unzufriedenheit auf angebliche Verursacher projiziert. Das könnten Migranten sein oder andere Minderheiten, je nach Stimmungslage. Damit wird jedoch kein einziges Problem gelöst, dafür werden zusätzlich weitere Menschen leiden. Oder die Gründe für Unzufriedenheit werden klar benannt und Politiken entworfen, die diese beseitigen. Hier handelt es sich um Ungerechtigkeit, also das ureigene Feld der Linken. Und weil das so ist, wird DIE LINKE weiterhin den Osten zu ihrem, zu einem linken Thema machen.

Jan Korte, Jahrgang 1977, ist stellvertretender Vorsitzender der Linksfraktion im Bundestag und Mitglied im Vorstand der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Olaf Miemiec, Jahrgang 1968, arbeitet für die Linksfraktion.

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