Wandern »die Arbeiter« nach rechts?

Über die Unschärfen einer politisch wichtigen Kategorie und die Ergebnisse der jüngeren Landtagswahlen

  • Horst Kahrs
  • Lesedauer: 9 Min.

Grundsätzlich gilt: Der Zusammenhang zwischen sozialer Lage, sozialem Status, ideologischer Orientierung (»politischem Milieu«) einerseits und aktuellem Wahlverhalten andererseits wird lockerer. Konnte man bei Landtagswahlen vor 30 oder 40 Jahren mit einer Wahrscheinlichkeit von über 50 Prozent »vorhersagen«, dass ein »Arbeiter« die SPD wählen würde, so trifft das in der Gegenwart für Parteipräferenzen nicht mehr zu.

Wer ist das: Arbeiter? Die Kategorisierung als »Arbeiter« in den Untersuchungen zum Wahlverhalten beruht auf einer Selbsteinstufung der Befragten. Die Forschungsgruppe Wahlen unterscheidet zunächst zwischen »berufstätig, Rentner, arbeitslos, in Ausbildung« und dann zwischen den sozialen Statusgruppen »Arbeiter, Angestellter, Beamter, Selbstständiger, Landwirte«. Unter diese Gruppen fallen dann auch verrentete oder arbeitslose Arbeiter, Angestellte usw. Bei »Arbeitern« hat man es nicht zwingend mit dem Wahlverhalten noch erwerbstätiger Arbeiter zu tun.

Der Autor

Horst Kahrs, Jahrgang 1956, ist Sozialwissenschaftler und beschäftigt sich im Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung unter anderem mit Klassen- und Sozialstrukturanalyse.

Er hat in den 1980er Jahren als Aktivist, Bildungsreferent und Sozialberater in der Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg e.V. gearbeitet und später unter anderem zu regionaler Arbeitsmarktpolitik geforscht. Heute ist er nicht zuletzt für seine ausführlichen Wahlanalysen bekannt. Der nebenstehende Text ist ein Auszug aus seiner jüngsten Analyse, die unter dem Titel »Bewegung statt Stabilität« als Arbeitspapier der Luxemburg-Stiftung erschienen ist und die Entwicklungen in den regionalen Parteisystemen und das Wahlverhalten von Arbeitern bei den Landtagswahlen 2014 bis 2017 untersucht. 

Die vollständige Fassung gibt es unter dasND.de/kahrs.

Anders verhält es sich bei den Befragungen von Infratest dimap, hier wird nach »Arbeitern, Angestellten, Beamten, Selbstständigen, Rentnern, Arbeitslosen« unterschieden. Mit großer Sicherheit hat man es hier, wahrheitsgemäße Angaben immer vorausgesetzt, dann mit erwerbstätigen »Arbeitern« zu tun.

Diese Unterschiede in der Systematik können einen erheblichen Teil der unterschiedlichen Angaben beider Institute erklären. Laut Infratest dimap wählten 17 Prozent der Arbeiter jüngst in Nordrhein-Westfalen die AfD, laut Forschungsgruppe Wahlen waren es in der »Berufsgruppe Arbeiter« nur 11,1 Prozent.

Nach der Zusammenlegung der Rentenversicherung der Arbeiter mit der Rentenversicherung der Angestellten gibt es keine offensichtliche sozialrechtliche Unterscheidungsmöglichkeit mehr, die als Kontrollfrage verwendet werden könnte. Bekanntlich verrichten auch Beamte oder Angestellte (im Dienstleistungssektor) Handarbeit, so dass auch diese klassische (sozialrechtliche) Unterscheidung zwischen »blue collar« und »white collar« wenig weiterhilft, um die subjektive Schichteinstufung zu bestätigen. Es ist unklar, ob die Einstufung als Arbeiter in klarer Abgrenzung zu den anderen Statusgruppen erfolgt oder ab hier tradierte Herkünfte und Zugehörigkeiten ausschlaggebend sind.

Die ALLBUS-Befragung liefert seit 1980 Längsschnittdaten zur subjektiven Schichteinstufung. Gefragt wird nach der Selbsteinstufung in Unterschicht, Arbeiterschicht, Mittelschicht (differenziert auch in untere, mittlere, obere) und Oberschicht. Die Selbsteinstufung in die »Arbeiterschicht« beinhaltet bei dieser Kategorisierung die Abgrenzung von der »Mittelschicht«, wer sich zur Arbeiterschicht zählt fühlt sich nicht der Mittelschicht zugehörig. Nach dem Stand der letzten publizierten ALLBUS-Auswertung für 2014 zählten sich in Westdeutschland 23 Prozent der befragten Erwachsenen zur Arbeiterschicht und in Ostdeutschland 36 Prozent. Diese Zahlen beziehen sich auf alle erwachsenen Personen, gleich ob erwerbstätig oder bereits verrentet.

Gerade erschienen ist eine Auswertung der Daten von ALLBUS 2016. Danach stuften sich 2016 noch 19 Prozent der Erwerbstätigen als Arbeiter ein, 2000 waren es noch 37 Prozent gewesen.

Im Zeitverlauf betrachtet unterliegt die Zuordnung zur Arbeiterschicht in Westdeutschland konjunkturellen Schwankungen, nimmt aber in der Tendenz ab, von etwa einem Drittel auf ein Viertel der Befragten.

Untersuchungen aus der Zeit vor den regelmäßigen ALLBUS-Erhebungen zeichnen für die alte Bundesrepublik etwa für 1976 folgendes Bild: Sozialrechtlich zählten 42,5 Prozent der Erwerbstätigen (und ihrer Familien) als »Arbeiter« und 43,7 Prozent als »Beamte« und »Angestellte«. Subjektiv ordneten sich 30 Prozent als Angehörige der »Arbeiterschicht« und 55 Prozent als der »Mittelschicht« zugehörig ein.

In Ostdeutschland rechnen sich Anfang der 1990er Jahre rund 55 Prozent zur Arbeiterschicht, ab den 2000er Jahren wird diese Selbstverortung brüchig und sinkt seit 2006 kontinuierlich auf deutlich unter 40 Prozent in 2014. Offensichtlich wandelt sich die Wahrnehmung der eigenen Position in der hierarchischen Struktur der (ostdeutschen) Gesellschaft deutlich - mit allen sozialpsychologischen Konsequenzen.

Zugehörigkeit beinhaltet sowohl die Selbstverortung im sozialen Gefüge der Gesellschaft als auch eine eher kulturelle, traditionale Identifikation mit einer bestimmten Schicht. Selbstverortung und (berufliche) soziale Lage stehen in keinem unmittelbaren kausalen Zusammenhang, vielmehr gehen in die Selbsteinstufung auch Faktoren wie die familiäre Herkunft, Traditionen, Milieubindungen ein, etwa wenn sich 16 Prozent der »qualifizierten Angestellten/gehobenen Beamten« in Westdeutschland in die Arbeiterschicht einordnen.

Wer sich zur Arbeiterschicht zählt, muss nicht unbedingt ein »blue collar«-Erwerbstätiger sein. Bei Schlussfolgerungen aus dem Wahlverhalten von »Arbeitern« muss daher berücksichtigt werden, dass diese Personen aus sehr unterschiedlichen sozialen Lagen kommen können, dass diese Zuordnung keiner homogenen sozialen Stellung im Erwerbs- und Berufsleben entspricht.

Gleichwohl gibt es etwas Verbindendes: In einem gesellschaftlichen Klima, in dem alles zur Mitte strebt, in der viel von der Mittelschicht die Rede ist, bekennt sich ein erheblicher Teil der Bevölkerung als nicht zugehörig, sondern besteht auf dem Status »Arbeiter/Arbeiterschicht«. Diese wiederum führt im politischen öffentlichen Diskurs kaum mehr als ein Schattendasein.

»Mitte« war immer eine gesellschaftspolitische Konstruktion, die sich nicht in sozialen Indikatoren (allein) fassen lässt. Sozial ging es darum, dass Arbeiter sich aus proletarischen Verhältnissen herausarbeiten, einen bescheidenen Wohlstand erwerben und ihren Kindern einen sozialen Aufstieg ermöglichen konnten, indes blieben sie Arbeiter.

Politisch war »Mitte« oder auch die »neue Mitte« Willy Brandts immer so etwas wie Definition eines (gesellschafts-)politischen Zentrums, welches im Mittelpunkt der politischen Bemühungen stehen sollte, also zentraler Ort der politischen Mehrheitsbildung. Nicht zur Mitte zu gehören, bedeutete immer auch, mit seinen Interessen und Lebensführungsmodellen nicht im Mittelpunkt der sozialstaatlichen Normen und der Gesetzgebung zu stehen. Insofern hätte die subjektive Selbsteinstufung als »Arbeiter« immer auch einen politischen Gehalt.

Traditionell wählten in der alten Bundesrepublik Arbeiter, nach der Konsolidierung des Dreiparteiensystems mit den beiden großen Volksparteien SPD und CDU/CSU sowie der Funktionspartei FDP bei Bundestagswahlen zu 90 Prozent und mehr eine der beiden großen Volksparteien.

1976 stimmten unter den wählenden Arbeitern für die SPD 60 Prozent und für die Unionsparteien 33 Prozent. Deutlich unterschied sich dabei das Wahlverhalten von katholischen Arbeitern (43 Prozent SPD, 55 Prozent CDU/CSU) von demjenigen protestantischer Arbeiter (SPD 71 Prozent, CDU/CSU 20 Prozent). In diesem Wahlverhalten spiegelten sich weniger religiöse Vorlieben als die beiden großen sozialmoralischen Traditionslinien.

Eine zweite Unterscheidung der Parteipräferenzen fällt mit der Qualifikation zusammen: un- und angelernte Arbeiter wählten 36 Prozent Union und 62 Prozent SPD, gelernte Arbeiter 44 Prozent Union und 49 Prozent SPD; einfache und mittlere Angestellte gaben zu 45 Prozent der Union und zu 44 Prozent der SPD ihre Stimme, höhere Angestellte und Beamte 58 Prozent der Union und 76 Prozent der SPD.

Es waren andere soziale Schichten, vor allem junge akademische, die sich mit ihrem Wahlverhalten aus diesem klassischen Dreiparteiensystem lösten und sich anderen Parteien zuwandten. Arbeiter taten dies als letzte der abgefragten Berufsgruppen. Wahlpolitische Offenheit bedeutete hier zunächst und vor allem, zwischen diesen beiden »Arbeiterbewegungsparteien« zu wechseln - oder gar nicht mehr zu wählen, wie zuerst in den von Deindustrialisierung betroffenen Großstädten ab Mitte der 1980er Jahre zu beobachten war.

Das Wahljahr 2005, geprägt von den Arbeitsmarktreformen, brachte eine entscheidende Wende im Arbeiterwahlverhalten, die Abwendung von den beiden großen Parteien, einen Bruch mit dem tradierten Wahlverhalten, der sich 2009 fortsetzte. Überwiegend war dies eine Abwendung von der Wahl, zum kleineren Teil eine Hinwendung zu anderen Parteien: 2005 vor allem zur Linkspartei aus PDS und WASG-Kandidaten, 2009 zur FDP und zur LINKEN, 2013 konnte allein die LINKE gewonnene Anteile halten. Unter erwerbstätigen Arbeitern erreichte sie, jetzt nach Infratest dimap-Zahlen, 12 Prozent, dann 18 Prozent und 2013 wieder 13 Prozent. Das aktuelle Wahlverhalten von Arbeitern bezüglich der Zustimmung zu SPD und Union passt sich, hinsichtlich Offenheit und Volatilität, nachholend demjenigen anderer Berufsgruppen an. Die Abwendung der erwerbstätigen Arbeiter von diesem parteipolitischen Kern des regionalen Parteiensystems vollzieht sich in den einzelnen Ländern zu unterschiedlichen Zeitpunkten und in unterschiedlicher Gestalt.

In Sachsen sank der Anteil von Union, SPD und LINKE bereits 2004 um über 20 Prozentpunkte auf 66 Prozent und blieb bis einschließlich der letzten Landtagswahl 2014 auf etwa diesem Level. Profitiert haben davon zunächst vor allem die NPD, dann NPD und AfD. Im ostdeutschen Parteiensystem zählt auch die PDS/Linke zu den drei großen regionalen Volksparteien, zum Kern des Parteiensystems. Sachsen kann durchaus als Ausnahme angesehen werden. Der Nachfolger von »König Kurt« Biedenkopf, Georg Milbradt, vermochte die absolute Mehrheit der Union nicht zusammenzuhalten, ihre Auflösung besonders unter Arbeitern erfolgte als anhaltende Bewegung nach rechts.

In den anderen ostdeutschen Flächenländern (und in Berlin) vollzieht sich die Abwendung von den drei großen Parteien in einer ersten, kleinen Welle bei den Wahlen 2004-2006, eine zweite größere folgt bei den Wahlen 2014-2016, wobei die Abwendung 2016 deutlich heftiger ausfällt als 2014. In Berlin und Sachsen-Anhalt erreichen die drei Parteien nicht einmal mehr 50 Prozent, in Mecklenburg-Vorpommern gerade noch 51 Prozent.

In den westdeutschen Flächenländern verläuft diese Entwicklung in vergleichbaren zeitlichen Etappen, aber zunächst durchaus in andere politische Richtungen. Im Saarland brechen SPD und Union 2009 auf gemeinsam 52 Prozent unter erwerbstätigen Arbeitern ein, die LINKE wird mit 34 Prozent stärkste Partei. Anschließend legen SPD und Union zu Lasten der Linkspartei wieder zu auf zuletzt 64 Prozent. Zwischenzeitlich erreicht 2012 die Piratenpartei unter Arbeitern 11 Prozent, die AfD 2017 erhielt 9 Prozent.

In Baden-Württemberg verlieren Union und SPD ebenfalls ab 2006, es beginnt sich anders als in anderen Bundesländern bereits zu diesem Zeitpunkt eine deutlichere Präferenz für die Grünen auszubilden, die sich bei den beiden folgenden Wahlen auf zuletzt 21 Prozent steigert. Die AfD erhält im »Ländle« 2016 mit 30 Prozent den höchsten Stimmenanteil aller Parteien unter erwerbstätigen Arbeiter. Auch in Rheinland-Pfalz erhalten die Grünen 2011 unter dem Eindruck der AKW-Katastrophe in Japan einen deutlich höheren Stimmenanteil unter Arbeitern, verlieren ihn aber 2016 wieder. Hier wird die AfD mit 24 Prozent zweitstärkste Partei unter Arbeitern vor der Union mit 22 Prozent und hinter der SPD mit 36 Prozent.

In NRW und Schleswig-Holstein zeichnen sich wegen der Dichte der Wahltermine (vorzeitige Wahlen 2012) die politischen Bewegungen unter Arbeiter-Wählern für die meisten westdeutschen Länder prototypisch ab: 2009/2010 gewinnen vor allem die LINKE und die FDP deutlich hinzu, 2012 sind es auch noch die Grünen, aber vor allem die Piratenpartei, die mehr als jede achte Arbeiterstimme erhält, und aktuell ist die AfD erfolgreich.

Ein vorläufiges Fazit zum Wahlverhalten der erwerbstätigen Arbeiter lautet daher: Später als andere Berufsgruppen, aber früher als Rentner lösen sich auch Arbeiter von den traditionellen Großparteien und begeben sich auf die Suche (nachholende Bewegung). Hierbei schlagen sie nur im Fall Sachsen eine eindeutige politische Richtung, nämlich nach rechts ein.

In allen anderen Fällen ist das neue Wahlverhalten, sofern es nicht mehrheitlich in Wahlenthaltung sich äußert, politisch nicht eindeutig gerichtet. Bei den Wahlen bis einschließlich 2010 geht es mehrheitlich in Richtung Linkspartei, 2011 gewinnen die Grünen stark, wird 2012 gewählt, so erhalten die Piraten hohe Zustimmung von Arbeitern, und ab 2014 profitiert die AfD.

Bislang ist in keinem Fall - außer Sachsen und vielleicht abgesehen von der Bindung an die Grünen bzw. wohl richtiger an den Ministerpräsidenten Wilfried Kretschmann in Baden-Württemberg keine dauerhafte Bindung über einen Wahltermin hinaus an eine andere Partei bzw. in eine bestimmte politische Richtung entstanden. Bei einigen Wahlen ist auch eine Rückkehr zu den großen Parteien zu beobachten. Die AfD kann »nur« bei Wahlen 2016 zur stärksten Partei unter Arbeitern werden, und zwar in Baden-Württemberg, Sachsen-Anhalt, Berlin und Mecklenburg-Vorpommern. Bezüglich der Stimmenanteile der AfD unter Arbeitern kann nicht davon gesprochen werden, dass die AfD die neue Arbeiterpartei sei oder Arbeiter generell mehrheitlich rechts wählen würden.

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