»Muss ich jetzt auch um mein Leben fürchten?«
Die wahrscheinliche Entführung eines Vietnamesen aus dem Tiergarten sorgt für Aufruhr in der Community
Seit der vietnamesische Ex-Politiker Trinh Xuan Thanh mutmaßlich aus Berlin nach Hanoi entführt wurde, ist es Lan A. aus Lichtenberg unangenehm, eine Vietnamesin zu sein. Ihren Nachnamen möchte sie nicht in der Zeitung lesen. »So etwas tut kein zivilisiertes Land.« Lan a. lebt seit 1989 in Berlin und arbeitet in der Verwaltung eines internationalen Reiseunternehmens. »Dieses Gefühl, mich für meine Herkunft schämen zu müssen, hatte ich lange nicht mehr«, erzählt sie. »Ich habe mich bis vor zehn Jahren immer geschämt, wenn es Kriminalität von vietnamesischen Zigarettenhändlern gab.« Die ist in den vergangenen Jahren deutlich gesunken.
Lan A. ist unter Kollegen und Nachbarn geachtet. »Die Leute wissen, dass ich gut arbeite. Sie wissen, dass vietnamesische Kinder gut in der Schule lernen. Alle sind freundlich zu mir.« Dass es eines Tages Diplomaten oder Geheimdienstler ihres Herkunftslandes sein würden, für die sie sich schämen muss, hätte Lan A. nie für möglich gehalten.
Die mutmaßliche Entführung des Ex-Politikers Trinh Xuan Thanh vor zwei Wochen durch vietnamesische Agenten ist derzeit das Top-Thema unter den 14 000 Berliner Vietnamesinnen und Vietnamesen. Trinh Xuan Thanh war bis 2012 Vorstandsvorsitzender eines staatseigenen Unternehmens in Vietnam, danach Politiker. Er gehörte dem Parlament an, außerdem der engen Führung der Kommunistischen Partei, und er war Vizegouverneur einer Provinz im Süden des Landes. Bis 2016. Danach fiel er in Ungnade.
Die Regierung wirft ihm vor, als Chef einer Tochterfirma des staatlichen Öl- und Gaskonzerns für Verluste von rund 125 Millionen Euro verantwortlich zu sein und sucht ihn mit Haftbefehl. Thanh konnte sich dank seines noch gültigen Diplomatenpasses nach Berlin absetzen, lebte hier im Verborgenen, beantragte Asyl. Die Korruptionsvorwürfe wies er von Berlin aus in einem vietnamesischsprachigen Blog zurück und sah sich stattdessen als Wortführer einer wirtschaftsfreundlichen Gruppierung innerhalb seiner Partei, die politisch in die Defensive geraten war – als Opfer politischer Verfolgung also.
Am 23. Juli verschwand Thanh mitten im Tiergarten. Augenzeugen wollen seine Entführung beobachtet haben. Eine Woche später tauchte Thanh in Hanoi auf. Die Regierung sagt, der Mann sei freiwillig zurückgekehrt, weil er sich stellen wollte. Die deutsche Bundesregierung und Polizei hingegen sprechen von einem kriminellen Akt und haben keinen Zweifel, dass der vietnamesische Geheimdienst Thanh gegen seinen Willen nach Hanoi brachte.
An die freiwillige Rückkehr glaubt keiner der Berliner Vietnamesen, mit denen »nd« gesprochen hat. Und das, obwohl in vielen Familien das vietnamesische Staatsfernsehen VTV4, das die Legende aufrechterhält, allabendlich läuft. Doch es gibt auch eine vietnamesischsprachige Gegenöffentlichkeit: Blogs und eine Onlinezeitung übersetzen die Nachrichten deutscher Medien, auf Facebook wird heftig über den Fall diskutiert.
Nicht alle Berliner Vietnamesen schämen sich wie Lan A. für den Geheimdienst. In einer Facebook-Gruppe freut sich ein Mann: »Der vietnamesische Geheimdienst ist stärker als der deutsche!« Für ihn und zahlreiche seiner Facebook-Freunde steht fest: Der Entführte ist ein Verbrecher und gehört in Vietnam verurteilt. Wenn Deutschland ihn nicht ausliefert – ein offizieller Auslieferungsantrag lag allerdings nicht vor –, dann ist die Entführung die richtige Notlösung. »Es können doch nicht alle vietnamesischen Funktionäre erst Geld veruntreuen und sich dann ins Ausland absetzen«, wettert er. Und ein anderer: »Trinh Xuan Thanh ist Vietnamese. Vietnam hat jedes Recht, ihn zu verfolgen. Warum mischt sich Deutschland da überhaupt ein? Deutschland soll nicht unter dem Deckmantel des Asylrechtes Verbrecher schützen.« Andere widersprechen: »Deutschland ist ein souveräner Staat. Da kann nicht einfach der vietnamesische Geheimdienst hier Leute entführen«, schreibt ein vietnamesisches Mitglied der Facebook-Gruppe und fragt: »Muss ich jetzt auch um mein Leben fürchten?«
Vergangene Woche spitzte sich der Konflikt zu einer diplomatischen Krise zu: Das Auswärtige Amt wies den Chef des Sicherheitsdienstes der vietnamesischen Botschaft aus, weil es ihm Mitverantwortung an der Entführung zuschreibt. Weitere Diplomaten könnten folgen. Das zeigt bei Berliner Vietnamesen Wirkung. Denn Botschaftsmitarbeiter gelten als Autoritäten. Als umstrittene Autoritäten, denen man gelegentlich ausgeliefert ist. Viele erzählen Geschichten, welche Amtspapiere sie in der Botschaft nur gegen eine Geldspende an Mitarbeiter bekommen haben. Dass der deutsche Staat einem Diplomaten Grenzen gesetzt hat, macht Eindruck.
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