Mesale Tolu: »Journalismus ist kein Verbrechen!«
Interview mit Mesale Tolu, die seit drei Monaten in der Türkei als politische Gefangene einsitzt
Seit gut drei Monaten ist die Journalistin und Übersetzerin Mesale Tolu in der Türkei inhaftiert. In der Nacht zum 30. April wurde sie in ihrer Wohnung in Istanbul von einer Antiterror-Einheit festgenommen. Mesale Tolu befand sich gerade zu einem längeren Aufenthalt in der Türkei, wo sie für die regierungskritische Nachrichtenagentur ETHA arbeitete. 1984 in Ulm geboren, legte Tolu 2007 die türkische Staatsbürgerschaft ab und ist seitdem deutsche Staatsbürgerin. Vorgeworfen werden ihr in der Türkei »Terrorpropaganda« und »Mitgliedschaft in einer Terrororganisation«. Nach jüngsten Informationen drohen ihr bis zu 15 Jahre Haft. Das Interview mit Mesale Tolu führte unser Autor Kevin Hoffmann schriftlich – Fragen und Antworten wurden auf dem Postweg ausgetauscht.
Frau Tolu wie geht es Ihnen zur Zeit?
Mir geht es soweit gut. Ich befinde mich seit dem 6. Mai im Gefängnis in Barkirköy in Istanbul. Drei Tage wurde ich in einer kleinen Zelle untergebracht, anschließend konnte ich zu den großen Gemeinschaftszellen wechseln. In der Gemeinschaftszelle lebe ich nun mit 24 Frauen und meinem kleinen Sohn zusammen. Mein erster Gerichtstermin wurde mir letzte Woche mitgeteilt. Am 11. Oktober, also genau fünf Monaten nachdem ich hier ins Gefängnis gebracht wurde, werde ich das erste Mal vor Gericht stehen. Ab und zu bekomme ich Artikel aus deutschen Medien über meine Situation und Informationen über die Solidaritätsaktionen, die in Deutschland für meine Freilassung organisiert werden. Dafür möchte ich mich herzlich bedanken.
Können Sie uns Ihre Umstände im Frauengefängnis etwas genauer beschreiben?
Insgesamt befinden sich in meiner Gemeinschaftszelle zwölf Zimmer und ein Gemeinschaftsraum. Wir teilen uns als Gefangene immer zu zweit ein Zimmer. In den Zimmern befinden sich ein Etagenbett, Schränke und ein Tisch. Jedes Zimmer ist etwa acht bis zehn Quadratmeter groß. Zudem befindet sich auch ein kleines WC in jedem Zimmer (natürlich mit separater Tür). Im Gemeinschaftsraum befindet sich ein kleiner Fernseher und eine Spüle (ähnlich einer offenen Küche, aber ohne Kochvorrichtung). Die offene Küche nutzen wir zum Kochen von Tee und löslichem Kaffee. Das Essen wird von der Gefängnisküche gebracht. Natürlich ist es kein vielfältiges Essen, die Liste der Gerichte wiederholt sich jede Woche. Zudem können wir von der Kantine einkaufen, jedoch ist auch hier keine große Vielfalt vorhanden. Hygiene- und Reinigungsartikel müssen wir von der Kantine selber kaufen und die Zellen selber reinigen. Die Reinigung der Gemeinschaftszelle teilen wir unter den 24 Frauen auf.
Wer sind die anderen Frauen, mit denen Sie die Gemeinschaftszelle teilen?
Alle 24 Frauen sind politische Gefangene. Das heißt, ihnen wird ihre Opposition zur herrschenden AKP-Politik vorgeworfen. Etwa zwölf von den Frauen befinden sich in Untersuchungshaft und warten auf ihren ersten Gerichtstermin – genau wie ich. Vier von ihnen wurden zu lebenslanger Haft verurteilt, die übrigen mindestens zu 6,5 Jahren Haft. Unter ihnen ist Hatice Duman. Sie ist ebenfalls Journalistin und gilt als die am längsten eingesperrte Journalistin der Welt. Seit 14 Jahren sitzt sie für ihre Arbeit bereits im türkischen Gefängnis.
Wie sieht Ihr Tagesablauf im Gefängnis aus?
Der Tag im Gefängnis fängt recht früh an. Um sieben Uhr stehen die meisten Frauen auf und machen Sport. Unser Hof ist von morgens sieben Uhr bis abends 20 Uhr geöffnet. Ab acht Uhr wird gefrühstückt. Die restliche Zeit wird gelesen, geschrieben und diskutiert. Jede von uns Frauen darf 15 Bücher in der Zelle besitzen. Diese werden von den Angehörigen und Freunden ins Gefängnis geschickt. Nach einer Kontrolle erhalten wir dann die Bücher. Erst wenn wir die Bücher wieder abgeben, können wir neue erhalten. Zudem kaufen wir jeden Tag Tageszeitungen, um uns über die Geschehnisse in der Türkei zu informieren. Briefe können wir an den Werktagen verschicken. Diese werden jedoch erst gelesen und anschließend gescannt, zuletzt dann verschickt. Alles, was wir an Post erhalten und verschicken, wird von der Gefängnisverwaltung digital gesammelt. Uns wird Post jeweils am Dienstag und Donnerstag ausgegeben. Zwei Mal am Tag werden wir von den Wärtern gezählt, um zu überprüfen, ob noch alle da sind.
Seit mehr als 100 Tagen befinden Sie sich nun im Gefängnis in Barkirköy. Wie verbringen Sie Ihre Zeit im Gefängnis?
Ich versuche hier soviel wie möglich zu lesen. Täglich informiere ich mich durch die Tageszeitungen und einen kleinen Fernseher über die Neuigkeiten von draußen. Hin und wieder setze ich mich hin, um Briefe zu schreiben. Seit meiner Festnahme erhalte ich dutzende Postkarten und Briefe aus der ganzen Welt. Beispielsweise schicken mir eine Freundin aus Irland, eine aus Japan und viele Freundinnen aus Deutschland regelmäßig Briefe und Postkarten. Die meisten dieser wundervollen Frauen sind mir persönlich nicht bekannt, jedoch stehen sie in enger Solidarität mit mir. Egal, wo sich diese Frauen befinden, sie nehmen sich die Zeit, mir einfach so fünf bis sechs Postkarten zu schicken. Sie schreiben mir Zitate oder drücken mir einfach die Daumen, dass ich frei komme. Das ist wunderschön und ermutigend! Jeder einzelne Gruß bedeutet mir unglaublich viel. Kontakt zu meinem Mann habe ich nur per Brief. Telefonieren darf ich mit ihm nicht. Aufgrund meines zweieinhalbjährigen Sohnes bleibt mir sonst nicht viel Zeit für andere Dinge.
Wie geht es Ihrem Sohn? Wie kommt er mit der Situation im Gefängnis zurecht?
Er hat nach einer kurzen Zeit schnell Kontakt zu allen anderen Frauen in unserer Zelle aufgenommen. Er spielt Fußball, malt Bilder oder spielt mit seinen wenigen Spielzeugen, die er hier hat. Leider dürfen wir keine Spielzeuge von draußen bekommen. In dem Gefängnis gibt es einen kleinen Kindergarten. Von diesem hat mein Sohn einen Ball, zwei Spielzeugautos und zwei Plüschtiere bekommen. Wir versuchen ihm daher auch selber Spielzeuge zu basteln. Dabei lassen alle Frauen in der Zelle ihrer Fantasie freien Lauf. Ich könnte meinen Sohn hier in den Kindergarten schicken, dort hätte er auch die Möglichkeit, auf einen kleinen Spielplatz zu gehen und mit anderen Kindern zu spielen. Leider will er aber ohne mich nirgendwohin gehen. Er hat Angst. Erst wurde sein Vater am 10. April verhaftet, anschließend wurden wir in der Nacht zum 30. April von der Polizei zu Hause überfallen. All diese Erlebnisse haben bei meinem Sohn ein Trauma verursacht, weshalb er immer noch Angst hat, mich zu verlieren. Mir wird es aber nicht erlaubt, meinen Sohn zumindest einmal zur Eingewöhnung in den Kindergarten zu bringen.
Wie läuft der Kontakt zu Ihren Anwälten?
Der Kontakt zu meinen türkischen Anwälten wird nicht eingeschränkt. Wir können zu jeder Zeit zusammenkommen. Doch auch für sie waren meine Akten über Monate verschlossen und geheim. Das macht die Vorbereitung einer Verteidigung fast unmöglich. Der Kontakt zu meinen deutschen Anwälten fand bisher nicht statt. Hierfür müssen angeblich noch einige Formalitäten vollständig erfüllt werden.
Nach Ihrer Verhaftung wurde der Zugang der deutschen Botschaft zu Ihnen zunächst verweigert. Sie haben allein die deutsche Staatsbürgerschaft und somit ein Recht auf konsularische Betreuung. Haben Sie jetzt Möglichkeiten des Kontakts mit den deutschen Behörden?
Die Betreuung durch die deutschen Behörden klappt zur Zeit ganz gut. Ich werde jeden Monat von den Mitarbeiterinnen des deutschen Konsulats in Istanbul besucht. Im ersten Monat war der Kontakt zunächst verhindert worden, aber seit Juni ist das nicht mehr der Fall. Die Mitarbeiterinnen versuchen mir dabei zu helfen, alle Bedürfnisse meines kleinen Sohnes zu erfüllen. Nach jedem Gespräch treffen sie auch den Leiter des Gefängnisses und teilen ihm mit, was mein Sohn und ich brauchen und fragen, wie man es beschaffen kann. Auch wenn wir nicht bei allen Forderungen Erfolg haben, ist das für mich eine sehr große Hilfe. Zudem unterrichten sie mich über Neuigkeiten aus Deutschland und fragen, ob sie mir auch anderweitig helfen können. Ich bekomme durch die Mitarbeiterinnen des Konsulats zum Beispiel deutschsprachige Zeitschriften und einige Kinderbücher für meinen Sohn.
Am 11. Oktober soll das Verfahren gegen Sie beginnen. Wie blicken Sie auf die kommende Zeit? Werden Sie wieder als Journalistin arbeiten?
Die Tatsache, dass ich verhaftet wurde, hat mir weder meine Hoffnung noch die Sehnsucht nach einer gerechten Welt genommen. Ich bin dabei keine Ausnahme. Tausende Frauen und hunderte Kinder befinden sich in den Gefängnissen überall in der Türkei. Natürlich werde ich als Journalistin meinen Weg weiter gehen, denn wir alle wissen, dass Journalismus kein Verbrechen ist! Ich bin mir sicher, dass diese grauen Zeiten bald vorbei sein werden und dass ich mit meinem Sohn frei sein werde. Dank der vielen Menschen, die sich mit mir solidarisieren, blicke ich hinter den verschlossenen Türen in eine grenzenlose Welt. Jeder einzelne Gruß, jeder Brief, jede Postkarte stärkt meine Hoffnung.
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