Politik ist mit im Stadion

Verbände und Politiker stellen Ultragruppen unter Generalverdacht. Dadurch könnte sich die Szene radikalisieren

  • Ronny Blaschke
  • Lesedauer: 5 Min.

Im Ostseestadion beschossen Fans aus Berlin die Rostocker Heimfans mit Feuerwerkskörpern, die Gegenseite verbrannte provokativ ein Hertha-Banner. Das Pokalspiel am Montag musste vor einem TV-Millionenpublikum unterbrochen werden. Tage zuvor hatten Anhänger von Hannover 96 bei einem Testspiel im englischen Burnley einen Spielabbruch herbeigeführt. Die Ereignisse erinnern an die Schlussphase der vergangenen Saison: Dortmunder Fans hatten Gäste aus Leipzig attackiert. 1500 Dresdener Anhänger zogen in Camouflagekleidung und Kriegsbemalung durch Karlsruhe. Auch in anderen Szenen drückten Fans ihr Überlegenheitsdenken mit Gewalt aus.

Kurz vor dem Bundesligastart wird der Ton schärfer, in Kurvengesängen, Fanforen, Internetvideos. Eine Zeile wurde zum geflügelten Wort: »Krieg dem DFB«. Der Deutsche Fußball-Bund wird von den Ultras, den leidenschaftlichen, lautstarken, farbenfrohen Fans, für die Kommerzialisierung verantwortlich gemacht, für häufig wechselnde Anstoßzeiten, astronomische Spielergehälter oder Relegationsspiele. Die Pyrotechnik wird zum Protestmittel.

Wieder einmal fragen Medien, ob das Stadion für Familien noch sicher ist. Wieder fordern Politiker wie Innenminister Thomas de Maizière von der Justiz eine »harte Kante«. Und Martin Kind, Klubchef in Hannover, möchte die Ultras »ausgrenzen«. Was dabei kaum diskutiert wird, sind die Ursachen für die Polarisierung - und die eigenen Versäumnisse.

Die drei höchsten deutschen Fußballligen zählen pro Saison mehr als 20 Millionen Stadionbesucher. Laut Schätzungen gehören den Ultragruppen nur rund 25 000 Mitglieder an. Innerhalb der Szene unterscheiden sich Bildung, politische Haltung und Gewaltbereitschaft enorm. In Extremfällen wie nun in Rostock schaden radikale Minderheiten von 20, 50 oder 100 Leuten ihrer ganzen Vereinskultur. Doch wie wird die moderate Stadionmehrheit nun reagieren, wenn sie die Kritik der Ultras zwar teilt, aber nicht deren Protestgebaren? Im Ostseestadion skandierten Tausende: »Und Ihr wollt Hansa Rostock sein?«

Noch vor sechs, sieben Jahren gab es einen ordentlichen Austausch zwischen Fanvertretern und Verbänden. 2011 ließ der DFB den Dialog über eine mögliche Legalisierung von Pyrotechnik in Stadien dann jedoch wieder abreißen, die Ultras fühlten sich in die Irre geführt. Dabei zeigen die Ligen in Dänemark, Norwegen oder in den USA, dass legale Feuerwerke das Stadionerlebnis bereichern können, wenn sich Fans, Verbände und Behörden auf Material und Sonderzonen einigen.

Damals zerstritten sich viele deutsche Ultragruppen über jene Themen, der Druck untereinander wuchs. In dieser Dynamik ging etwas unter: In Aachen, Braunschweig oder Duisburg wurden Ultras, die sich gegen Diskriminierung gestellt hatten, von rechten Hooligans attackiert, begünstigt durch den wachsenden Rechtspopulismus. Von Vereinen und DFB erhielten die Opfer kaum Unterstützung. Die meisten Medien interessierten sich nicht dafür, weil die Konflikte nicht vor Kameras eskalierten. Entmutigt kehrten kreative Wortführer der Ultrakultur den Rücken, während sich immer mehr Gewaltbereite zu ihr hingezogen fühlten.

Die Schlagzeilen wurden seither um neue Begriffe ergänzt. Politiker forderten polizeiliche Datenbanken, Reiseverbote, Handyüberwachung. Vereine kümmerten sich lieber um ihre Vermarktung in Asien und Nordamerika. Kaum jemand interessierte sich für das Spendensammeln oder die Gedenkstättenfahrten vieler Ultras. Stattdessen wurde eine komplexe Jugendkultur auf Brandstiftung reduziert. Das förderte nur die Abschottung der Ultras.

Nun, da eine Eskalation nicht mehr unwahrscheinlich ist, wirbt DFB-Präsident Reinhard Grindel für einen Dialog und spricht sich gegen Kollektivstrafen aus, etwa gegen Blocksperren. Kritische Bündnisse wie ProFans zeigen sich skeptisch, aber wieder gesprächsbereit. Und jenseits des Aktionismus? Die eigenen Strukturen hinterfragt Grindel öffentlich nicht: In der Verbandshierarchie hat die kleine Abteilung für Fanangelegenheiten kaum Einfluss, stattdessen beanspruchen Juristen und ehemalige Polizisten die Deutungshoheit. Die Deutsche Fußball Liga DFL ist fortschrittlicher aufgestellt, mit einer wachsenden Abteilung und vielen Projekten, die positive Ultrakräfte stärken sollen.

Die europäischen Ligen beneiden Deutschland um ein einmaliges Netzwerk von 60 sozialpädagogischen Fanprojekten, deren Jahresetat liegt zusammen bei mehr als elf Millionen Euro, finanziert durch DFB, DFL und Kommunen. Aber: Die regelmäßige Skandalisierung erhöht den Handlungsdruck auf Politik und Vereine, die ihren Frust oft auf Fanprojekte abwälzen. Einige Sozialarbeiter geben daher ihren Job schnell auf, langfristige Jugendarbeit mit Ultras ist oft nur schwer möglich.

In der vergangenen Saison hat das DFB-Sportgericht in den oberen drei Ligen fast zwei Millionen Euro an Strafen ausgesprochen. Noch immer fehlt das Bewusstsein, dass diese mit früherer Prävention geringer hätte ausfallen können. Selbst die reichen Klubs wollen wenig Geld für wissenschaftliche Beratung ausgeben. Erfolgreiche Bildungsprojekte wie »Lernort Stadion« wären ohne die Anschubfinanzierung der Robert-Bosch-Stiftung gar nicht erst entstanden.

Werden Verbände und Politiker nach der Aufregung einsehen, dass Fankultur und Stadtgesellschaften nicht voneinander zu trennen sind? Ultras tragen ihre Sorgen aus dem Alltag ins Stadion - und umgekehrt wieder zurück. Sie können in der Kurve viel verinnerlichen: Schimpftiraden und Gewaltformen. Aber auch Solidarität und Kreativität.

Laut der Shell-Studie von 2015 äußern 41 Prozent der deutschen Jugend ein Interesse an Politik, 2002 lag dieser Wert noch bei 30 Prozent. Aber ihr Interesse an Parteien ist gering. Viele Jugendliche fühlen sich zu den Ultras hingezogen, weil sie dort Emotionen und gesellschaftliche Ziele verbinden können, zum Beispiel das Wirken gegen Homophobie. Die kommenden Wochen können darüber entscheiden, ob diese fortschrittlichen Kräfte gestärkt oder entmutigt werden. Das würden die Vereine zu spüren bekommen. Aber auch Arbeitgeber, Unis und Familien, denn dort verbringen Ultras den Großteil ihrer Zeit.

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