Dagobert Meißner (Berlin, 1991)

Unbekannte Bekannte

  • Walter Kaufmann
  • Lesedauer: 3 Min.

Kann einer deinen Weg kreuzen, ohne dir je zu begegnen? Ja und nein. Das Angebot einer Münchener Agentur zur Wendezeit stellte so etwas wie ein Kreuzen meiner Wege dar. Dabei war in dem Schreiben lediglich versprochen worden, ein geschultes Lektorat werde für eine Gebühr von 65 DM mein Manuskript prüfen und gegebenenfalls einem geeigneten Verlag empfehlen. Alles Weitere wäre abzuwarten, doch man sei zuversichtlich und verbleibe mit freundlichen Grüßen: Dagobert Meißner.

Immerhin ein Neuanfang, sagte ich mir. »Ein jegliches hat seine Zeit«, so der Titel des Buches, um das es ging, war an einen Rudolstädter Verlag gebunden gewesen, doch dann mit Bedauern zurückgeschickt worden, als der Verlag Insolvenz hatte anmelden müssen. Der Verlag war der letzte für mich verbleibende im Osten gewesen und er war, wie ich erfuhr, von einem westdeutschen Unternehmer geprellt und ruiniert worden. Die Münchener Agentur versprach mir Rettung in prekären Zeiten. Ich überwies die geforderte Gebühr und wartete ab.

Abwartend stellte ich mir den Herrn Dagobert Meißner vor: ein beleibter Bajuware vermutlich, in grauem Flanell, berufserfahren mit Durchblick, helle Augen, schütteres Blondhaar und sonore Stimme - und meist jovial. So hatte ich ihn vor Augen, nicht immerzu, aber immer wieder. Als aber über mehrere Monate kein weiteres Schreiben von ihm einging, verblassten er und sein Angebot.

Doch siehe da, wenige Wochen vor Weihnachten erreichte mich der Cheflektor eines Westberliner Verlages und teilte mit, mein Buch würde noch vor dem Fest gedruckt und ausgeliefert werden. »Wir gratulieren uns zur Entdeckung Ihres Textes und Ihnen zur Veröffentlichung.« Erfreut und nicht wenig erstaunt meldete ich mich telefonisch in München und bat, mit Herrn Meißner verbunden zu werden. Seine Stimme kam mir irgendwie bekannt vor, auch kehrte die Vorstellung wieder, die ich mir von ihm gemacht hatte: mein Bajuware. Warum ich von den Verhandlungen mit dem Westberliner Verlag nicht längst erfahren habe, fragte ich ihn. »Aber, aber«, antwortete er, »wir haben Ihnen doch diesbezüglich geschrieben«. - »Haben Sie das? Bei mir traf nichts ein.« - »Na dann«, sagte Herr Meißner und beließ es dabei.

Nicht lange später erreichte mich ein vordatierter Brief, in dem Herr Meißner, so als wäre von all dem längst die Rede gewesen, zähe Verhandlungen mit Westberlin beschrieb, den eigenen Erfolg anpries und mir ein frohes Fest wünschte. »Nach den Feiertagen mehr, Ihr ergebener …« Es folgte kein weiteres Schreiben, keine Kopien irgendwelcher Verträge, keine gegenseitigen Aufrechnungen, nur Schweigen. Und in dieses Schweigen hinein versicherte mir der Westberliner Cheflektor, dass es kaum je Verhandlungen mit Herrn Meißner gegeben hätte, »zähe gleich gar nicht«, sagte er; bei einem Routinebesuch in München sei ihm eingefallen, kurz bei der Agentur Meißner hineinzuschauen: »Und was erblickte ich dort? Raten Sie mal. Stapelweise Manuskripte auf Schränken, etliche hundert, schätzungsweise, und alle verstaubt. Reiner Zufall, dass ich auf Ihren Namen stieß, das Manuskript herausfischte und ein paar Seiten las. Alles Weitere ist ja bekannt. Zähe Verhandlungen - dass ich nicht lache!«

Er lachte wirklich und sagte dann: »Und nun rechnen Sie mal. An die 300 Manuskripte, pro Stück 65 DM Bearbeitungsgebühr. Das ergibt so um die 19 500 DM. Ein stattliches Sümmchen, finden Sie nicht auch? Und alles in nur ein paar Monaten - und ohne Mühe!«

Ich fand es hart zu glauben - so viele Schreiber in derart kurzer Zeit? »Haben Sie eine Ahnung«, sagte der Cheflektor. »Herr Meißner wird mehr an unveröffentlichten Manuskripten verdienen als manch ein Verlag an veröffentlichten.«

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