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Annett Gröschner: »Da gibt es noch eine andere Welt«
Auch das war DDR: Von der Blumenhändlerin zur Kranfahrerin. Ein Gespräch mit Annett Gröschner über ihren neuen Roman »Schwebende Lasten«
In Ihrem neuen Roman »Schwebende Lasten« erzählen Sie die Geschichte der Blumenbinderin und Kranfahrerin Hanna Krause aus Magdeburg. Warum ist seit der Veröffentlichung Ihres letzten Romans »Walpurgistag« 2011 so viel Zeit vergangen?
Dieses monatelang am Schreibtisch sitzen ist für mich schwierig, weil ich lieber interdisziplinär arbeite. Ich habe vor vielen Jahren überlegt, welche Romane ich schreiben will. In meinem ersten Roman »Moskauer Eis« ist Hanna Krause bereits eine Nebenfigur als Großmutter von Annja Kobe. Deren Mutter Barbara verlässt die Familie, als Annja zwölf ist. Warum sie das tut, wollte ich in »Schwebende Lasten« erzählen. Ich habe ewig gebraucht, und irgendwann hat meine damalige Lektorin gesagt: »Das sind zwei Romane, der von Hanna und der ihrer Töchter.« Ich habe danach noch Jahre an der Struktur herumgedoktert. Meine Lektorin war längst keine Lektorin mehr, da habe ich gedacht, vielleicht hat sie doch recht und habe einen Strang aus dem Roman herausgelöst. Diese Geschichte von Hanna Krause und ihren Blumen als eigenständiger Roman ist »Schwebende Lasten« und der zweite Roman, der nächstes Jahr kommt, heißt »Frauenruheraum«. Der erzählt die Geschichte der Töchter von Hanna Krause, zu denen auch Barbara Kobe gehört und spielt während des Elbehochwassers 2013.
Annett Gröschner, geboren 1964 in Magdeburg, lebt seit 1983 als Schriftstellerin in Berlin. Bekannt wurde sie vor allem mit ihren Romanen »Moskauer Eis« (2000) und »Walpurgistag« (2011). Zuletzt erschien bei Hanser ihr gemeinsam mit Peggy Mädler und Wenke Seemann verfasster Bestseller »Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich und gründen den idealen Staat« (2024). Nächste Woche erscheint ihr neuer Roman »Schwebende Lasten«.
Am Anfang des Romans fährt Hanna als junge Frau mit einer Straßenbahn durch Berlin und denkt daran, wie sie in Magdeburg bei ihrer Halbschwester und Blumenhändlerin Rose aufgewachsen ist. Warum ist Hanna ein Waisenkind?
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab es viele Kinder, die bei den älteren Geschwistern aufgewachsen sind. Hanna ist gar kein Waisenkind, der Vater macht sich einfach aus dem Staub, die Mutter ist, das Scheidungsurteil in der Hand, tot umgefallen. Hanna und ihre Schwester waren billige Arbeitskräfte. Wodurch gleichzeitig verhindert wurde, dass sie ins Heim kamen, was als Win-Win-Situation verkauft wurde, aber auch Ausbeutung war.
Im zweiten Kapitel finden wir Hanna dann wieder in Magdeburg. Sie hat am Rand des Armenviertels Knattergebirge einen Blumenladen eröffnet, geheiratet und ihr erstes Kind geboren. Das zweite Kind verliert sie, entsorgt es in der Mülltonne und sperrt den Laden wieder auf, denn: »Sie konnte sich einen Tagessatz verwelkte Blumen nicht leisten.« Das klingt sehr hart.
Es war hart als Selbstständige, sie kann nicht drei Tage frei machen, nur weil sie eine Fehlgeburt hat. Erst kürzlich ist ein Gesetz verabschiedet worden, das Frauen Mutterschutz ermöglicht, die nach der 13. Woche ihr Kind verlieren.
Hanna ist mit fünfundzwanzig das sechste Mal schwanger, hat zwei Abtreibungen hinter sich, zwei Kinder geboren und eine Fehlgeburt. Sie ist froh, wenn ihr Mann betrunken nach Hause kommt und in der Küche schläft.
Ich habe mit dreiundzwanzig in der Frauenklinik gelegen und da war eine Frau, die wollte unbedingt sterilisiert werden. Die hat gesagt, bei mir reicht schon eine Hose im Schlafzimmer aus, dass ich schwanger werde. Was macht man, wenn Abtreibung verboten ist, man aber schnell schwanger wird und nicht genug über Verhütung weiß? Meine Großmutter hat erst von ihren erwachsenen Töchtern erfahren, dass es fruchtbare und unfruchtbare Tage gibt.
Im vierten Kapitel, im September 1938, taucht ein wenig märchenhaft ein Mann mit einer Postkarte in Hannas Blumenladen auf.
Für mich war diese Person sehr wichtig, um Hanna zu zeigen: Da gibt es noch eine andere Welt. Hanna ist eine Künstlerin, sie kann mit den geringsten Mitteln Blumensträuße binden, die außergewöhnlich sind. Und dieser Mann zeigt ihr die Postkarte eines Stilllebens und bittet sie, das mit echten Blumen nachzubauen. Sie sieht sofort, dass das nicht geht: die gemalten Blumen blühen zu ganz unterschiedlichen Jahreszeiten. Hanna erfährt von ihrem Besucher, dass auch im Magdeburger Museum ein Blumenstück hängt. Als Kind der Arbeiterklasse kann sie sich nicht vorstellen, in ein Museum zu gehen. Sie hat dafür keine Zeit.
Der Blumenladen rentiert sich nicht und dann ist Krieg. Hanna wird mit ihren Kindern unter der Nikolaikirche verschüttet. Für mich die Schlüsselszene. Sie schicken Hanna aus dieser Situation heraus in Flammen hinein, schaffen einen apokalyptischen Feuersturm, wie kommen Sie zu so einem Bild?
Die Familie meiner Mutter war unter dieser Kirche verschüttet. Es ist traumatisch, wenn ein kleines Kind verschüttet wird und später nie psychologische Hilfe bekommt. Es gibt das Trauma weiter. Das gilt für alle Kriege. Ich habe mich lange damit beschäftigt und Bücher darüber herausgegeben, wie Kinder Bombenangriffe erleben. Bei den großen Feuerstürmen sind Menschen durch die Luft geflogen und vom Feuer aufgesaugt worden.
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Es gibt im Roman für die Nachkriegszeit einen Satz: »Nichts warf hier Schatten.« Ein Satz, der ergreifend ist, wenn man bedenkt, dass kaum noch Häuser in der Magdeburger Innenstadt standen. Vom Bahnhof bis zur Elbe.
Ja, es gibt dieses Foto von Magdeburg: Dieser eine Mensch und die Johanniskirche als Ruine. Und einen halben Kilometer nach rechts und links ist alles weg. Ich habe mich immer gefragt, wie sie es geschafft haben, das zu enttrümmern. Damit sind wir aufgewachsen, die leeren Flächen waren später begrünt. Aber die Keller waren noch drunter.
Magdeburg wird wieder aufgebaut, Hanna bekommt Anfang der Fünfzigerjahre noch ein Kind und Lust, auf den Kran im Thälmannwerk zu steigen. Dort wird sie bis ans Ende ihres Arbeitslebens Lasten schweben lassen. Wieso Kranfahrerin?
Lange bevor ich eine Geschichte hatte, gab es die Idee, über die Schwerindustrie in Magdeburg zu schreiben und ich fand den Beruf der Kranfahrerin reizvoll, weil man von da oben die ganze Szene einer Werkhalle überblicken kann. Ich habe dann im Laufe meiner Recherchen Kranfahrerinnen kennengelernt und mit ihnen Interviews geführt.
Es gibt eine Szene, in der Hanna ihre jüngste Tochter zum Kranfahren mitnimmt. Dann überlegt sie, dass sie mit ihren anderen Töchtern einzeln Eisessen gehen wird, damit die nicht eifersüchtig sind.
Das haben mir meine Tanten und meine Mutter über meine Großmutter erzählt. Ich fand das großartig, dass ihre Mutter es geschafft hat, jeder Einzelnen das Gefühl zu geben, dass sie die Einzige ist. Aber wenn ich jetzt diese Geschichte erzähle, ist das nicht die Geschichte meiner eigenen Großmutter, sondern eine vielfach durchgearbeitete Erzählung, die ihren eigenen Gesetzen folgt.
Hanna ist empört, als ihre jüngste Tochter Ende der Achtzigerjahre im Gefängnis sitzt.
Hanna ist keine Widerstandskämpferin. Aber sie hat Momente, wo sie einfach nicht anders kann als Widerstand, auch wenn es völlig unüberlegt ist. Sie kann nicht akzeptieren, dass ihre jüngste Tochter in einem Arbeiterstaat ins Gefängnis kommt. Und dass diese Tochter, bevor sie ins Gefängnis kommt, zur Strafe auf den Kran muss. Da stimmt für sie das Weltbild nicht mehr. Das hat bei ihr was kaputtgemacht, ich glaube, das ging vielen in der Generation so am Ende der DDR.
Sie haben sich viel mit Arbeitswelten beschäftigt. Welche Rolle spielen Autoren und Autorinnen der DDR-Literatur für Sie? Ist Wolfgang Hilbig gemeint, als Hanna sich wünscht, dass ein Pfau durch die Halle geht?
Als sich Hanna einen Pfau wünscht, ist der natürlich eine Hommage an Wolfgang Hilbigs Arbeitergeschichten. Ich würde noch Werner Bräunig erwähnen, der mich stark beeinflusst hat, als ich über die Wismut und über Kernenergie geschrieben habe.
Annett Gröschner: Schwebende Lasten. C.H. Beck, 282 S., geb., 26 €. Erscheint am 20.3. Buchpremiere am 13.3. im Brecht Haus, Berlin, um 19.30 Uhr. Lesung am 17.4. im Literatursalon im FMP1, Berlin, um 18 Uhr
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