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Ist in Köln das Leitungswasser trinkbar?
»Köln 75«: Der Durchbruch von Keith Jarrett als Spielfilm, fast wie von Truffaut
Keith Jarrett ist eine Wunderblume, die dieses Jahr 80 wird. 2007 sagte er dem »Spiegel«, nach verschiedenen Krisen habe er endlich aufgehört, das Klavier zu hassen. Aber warum hasst ein weltberühmter Pianist sein Instrument? »Weil es nicht singen kann«, meinte er, »inzwischen habe ich mich damit abgefunden, ja, ich fühle mich sogar ganz wohl damit.« Weil das Klavier »keine Stimme hat«, würde er bei seinen Auftritten immer so stöhnen, brummeln und mit den Füßen trampeln.
In den Siebzigerjahren hat Jarrett mit seinen Improvisationen das Solo-Jazz-Konzert am Piano revolutioniert, indem er es »mit Sechziger-Jahre-Ideen von Spontaneität und Freiheit« verband, wie die »New York Times« schrieb. Für den »Spiegel« waren es »triumphale Alleingänge«, die Siegfried Schmidt-Joos 1974 so beschrieb: »Jarretts durchweg wohlklingende Tonbilder, harmonisch bis an die Grenze serieller Musik aufgefächert, folgen dem Rhythmus des Atems. Es sind Monologe eines Introvertierten, der sich zum Zwiegespräch mit dem Zuhörer offenhält.«
Dieser sensible Geist trifft in Ido Fluks Spielfilm »Köln 75« auf eine extrovertierte junge Frau, die ihm sehr auf die Nerven geht: Vera Brandes – die aber auch das Konzert veranstaltet, dessen Mitschnitt das meistverkaufte Solo-Jazz-Album aller Zeiten wurde: Das Doppelalbum »The Köln Concert« auf ECM hat sich bis heute 3,4 Millionen Mal verkauft. Beinahe hätte es nicht stattgefunden. Von diesem Beinahe lebt dieser Film und von den zwei Geschwindigkeiten seiner beiden Protagonisten: vom langsamen Jarrett (John Magaro) und von der niemals langsamen Brandes (Mala Emde), die im »Lola rennt«-Tempo unterwegs ist.
Es ist eine doppelte Erfolgsgeschichte. 1975 tourt Jarrett durch Europa – im Renault 4, einem damals bei Fahranfängern, Freaks und anderen Fabulanten beliebten Kleinwagen, ähnlich dem »Käfer« und der »Ente«. Er hat kein Geld, keinen Plattenvertrag und er hat aufgehört, in der Band von Miles Davis zu spielen, als deren Keyboarder er bekannt wurde. Aber er hat die Hoffnung, dass in Europa sein virtuoser Impro-Stil besser ankommt als in den USA. Brandes hingegen muss raus aus ihrem bürgerlichen Elternhaus, wo ihr Zahnarztvater (Ulrich Tukur) diktatorisch herrscht. Sie ist 18 und erzählt allen, sie sei 25. Sie organisiert sich nicht in einer politischen Gruppe, sondern sie organisiert Konzerte in Köln. Keine Rockmusik, sondern Jazz. Aus ihr wird später einmal eine bekannte Konzertagentin und Labelbetreiberin.
1974 ist das Jahr, in dem in den USA Punk beginnt und Disco sich durchsetzt. Doch für Brandes und ihre Freunde sind die Westberliner Jazztage das große Ding. Und Keith Jarrett ist etwas ganz Besonderes. Denn er setzt sich an den Flügel und erfindet jedes Konzert neu. Jarrett glaubt, nur Musik »kann dich aufwecken.« Doch Wiglaf Droste hat in seinem berühmten Text über das »Köln Concert« das Gegenteil beschrieben. Für ihn war es der Soundtrack zum Wegdämmern im Jugendzimmer der mittleren 70er Jahre: »Schlug man, während diese Platte lief – und sie lief quasi immer – egal was vor, so erhielt man chronisch die Antwort: ›Ach nee … mir geht’s heut’ nicht so gut‹, tönte es aus der wie waidwund oder todesmatt herumliegenden Gestalt, ›ich weiß auch gar nicht, wer ich bin‹.«
Der Mitschnitt dieses Konzerts auf Platte musste wie auch das Konzert selbst gegen alle Widrigkeiten vor Ort durchgesetzt werden. Regisseur Ido Fluk hat »Köln 75« wie einen Truffaut-Film gedreht. Es geht um den Kampf um die großen Gefühle, die nicht behauptet, sondern gezeigt werden. Hierfür hat Fluk den Film in drei Abschnitte unterteilt. Im ersten wird Brandes als Figur beschrieben, im zweiten Jarrett und im dritten geht es um die Vorbereitung des Kölner Konzerts.
Brandes’ Geschichte ist die einer aufgeweckten jungen Frau und ihrer besten Freundin zwischen frühem Feminismus und linker Gegenkultur im Gewand der Zeit. Ton Steine Scherben werden zitiert und Can werden gespielt. Einmal stehen Brandes und ihre Freundin lässig im Schulgebäude rum, als ein neuer Schüler vorbeikommt und sie fragt: »Was macht ihr so zum Spaß?« – »Wir organisieren Widerstand gegen unterdrückerische Systeme.« »Habt ihr feste Freunde?« – Wir glauben nicht an feste Freunde.«
Brandes beginnt mit dem Organisieren von Jazzkonzerten als Mischung aus Hobby und Mutprobe. Nach einem Konzert in Köln fragt sie der Londoner Tenorsaxophonist Ronnie Scott mehr aus Spaß, ob sie ihm ein paar Gigs besorgen könnte – und sie macht es einfach. In der Badewanne übt sie dafür das professionelle Auftreten am Telefon. Es muss so klingen, als rufe sie die deutschen Clubs direkt aus London an. Das klappt auch ganz gut. Die größte Mutprobe ist dann das Konzert von Keith Jarrett in der Kölner Oper. Für die Miete muss sie sich 10 000 DM von ihrer Mutter leihen und versprechen, wenn sie die nicht zurückzahlen kann, Zahnärztin zu werden – eine Horrorvorstellung.
Für das Konzert reist Jarrett aus Lausanne an, im R4, gesteuert vom ECM-Labelbetreiber Manfred Eicher (Alexander Scheer), der für ihn Manager, Roadie und Fahrer in einer Person ist. Die Flugtickets, die ihnen Brandes geschickt hat, geben sie am Flughafen zurück, weil sie dringend Geld brauchen. Sie nehmen einen US-amerikanischen Jazz-Journalisten namens Michael (Michael Cernus) mit, der nicht weiß, wie er sonst nach Köln kommen könnte, will er doch den großen Jarrett-Artikel schreiben. Schon vorher tritt er im Film auf, durchbricht die vierte Wand und erklärt den Zuschauern ein paar jazzhistorische Besonderheiten, vorallem die Entwicklung von der Big Band bis zum Solokünstler Jarrett.
Im Auto soll er nicht soviel reden und fragen. Jarrett und Eicher sind äußerst missmutig. Jarrett leidet an schweren Rückenschmerzen, die durch sein ekstatisches Spiel befeuert werden, irgendwann sitzt dann der Journalist am Steuer und fährt sie auf einsamen bergigen Straßen durch die Nacht, während der Mond freundlich leuchtet. Das sind schöne, ruhige Momente im zweiten Teil des Films, die en passant verdeutlichen, was Jarrett für ein Typ ist: Ein »schwer auf innerlich gestrickter Mann«, wie Droste schrieb. Morgens stehen sie auf einer Wiese neben der Straße, Jarrett macht meditative Atemübungen und im Hintergrund hört man Kuhglocken.
Im dritten Teil nimmt der Film wieder rasant an Fahrt auf. Denn in Köln angekommen, gibt es ein großes Problem in der Oper: Auf der Bühne steht der falsche Flügel! Nicht der von Jarrett gewünschte große Bösendorfer 290 Imperial, sondern nur ein kleiner Stutzflügel und der ist auch noch verstimmt und ein Pedal ist kaputt. Jarrett und Eicher sagen das Konzert für den Abend ab. Nun müssen Brandes und ihre Freunde einen Wettlauf gegen die Uhr starten, um den richtigen Flügel zu organisieren und als das nicht klappen will, zumindest eine rasante Reparatur des falschen. Darauf zu spielen gleiche einem Autounfall, befürchtet Jarrett und bekommt von Brandes schließlich zu hören, er habe doch wohl nur Angst! Und dann geht der sichtlich angestrengte Jarrett, der zwei Tage nicht geschlafen hat, in seinem Hotelzimmer zum Waschbecken und fragt, ob man in Köln das Leitungswasser trinken könnte? Als Brandes das bejaht, erklärt er sich bereit, zu spielen.
Das Konzert ist ausverkauft. Jarrett tritt tatsächlich auf. Der Höhepunkt, auf den der gesamte Film hinarbeitet, spielt nicht so die Rolle. Was auch daran liegt, dass der Original-Keith-Jarrett keine einzige Aufnahme seiner Musik für den Film freigegeben hat. Stattdessen erklingt »To Love Somebody« von Nina Simone – eine sehr sympathische Idee. Alle Spannung löst sich in Wohlgefallen auf. Als Jarrett dann wieder mit Eicher im R4 sitzt und das Weite sucht, fragt er den ECM-Mann, wie es denn gewesen sei? »Heute Abend? Es war gut«, sagt der nur.
»Köln 75«, Regie und Buch: Ido Fluk. mit Mala Emde, John Magaro, Michael Chernus, Alexander Scheer, Ulrich Tukur. Deutschland, Polen, Belgien 2025, 116 Min, Kinostart heute
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