Große Chancen, riesige Gefahren

Bürgerrechte sind noch nie vom Himmel gefallen. Das gilt auch für die Demokratie im Zeitalter der Digitalisierung. Ein Debattenbeitrag

  • Petra Pau
  • Lesedauer: 7 Min.

Noch gut erinnere ich mich an Mitte der 1990er Jahre. Damals wurde das Internet allgemein zugänglich. Die Euphorie war groß. Erstmals wurden Bürgerinnen und Bürger Sender und Empfänger von Nachrichten zugleich, und das auch noch weltweit, in Echtzeit. Das war historisch neu.

Nunmehr konnte man sich vernetzen, aktivieren, mobilisieren, auch eingreifen, über lokale Grenzen hinweg. Die Aktionsplattform Campact ist dafür in Deutschland nur ein Beispiel. Ein anderes digitales Angebot ist Abgeordnetenwatch . Wählerinnen und Wähler können so Parlamentariern auf den Zahn fühlen, deren Tun oder Lassen transparent abbilden.

Früher bekam ich als Mitglied des Bundestags täglich fünf bis zehn Briefe. Die erhalte ich auch heute noch, zusätzlich aber ein- bis zweihundert E-Mails. Keine Frage, das Internet ermöglicht mehr Transparenz und Einfluss für Bürgerinnen und Bürger. Bewirkt die Digitalisierung - sie umfasst mehr als das weltweite Netz – folglich auch mehr Demokratie?!

Später, rund um 2010, gab es noch viel weitergehende Prognosen und Erwartungen. Eine These lautet: In der Geschichte basierte jede gesellschaftliche Revolution auf zwei fundamentalen Neuerungen: Möglichkeiten der Energienutzung, die es bis dato nicht gab, sowie historisch ebensolche allgemeiner Kommunikation.

Der Siegeszug des Kapitalismus war seinerzeit undenkbar, ohne Dampf-, Kohle- und später Öl- oder Gas-Energie, und ebenso ohne Telegrafie, Telefonie sowie folgend Rundfunk und Fernsehen.

Soweit der Rückblick und folglich der Ausblick:

Könnte es nicht sein, dass die Solarenergie und die Digitalisierung sich als eine Paarung erweisen, die einen neuen historischen Aufbruch ermöglicht? Einen, der über den Kapitalismus hinausweist, weil er die globale Vernetzung sinnvoll mit einer ökonomischen Regionalisierung verbindet und mithin die globale Herrschaft von Monopolen untergräbt?

Jeremy Rifkin, ein Analyst aus den USA, und Hermann Scheer, der 2010 gestorben ist, der bislang letzte Visionär der SPD, vertraten solche Überlegungen. Womit sie übrigens näher bei Karl Marx sind, als manche besonders umtriebigen Anti-Kapitalisten. Denn für Marx waren stets neue Produktivkräfte die potentielle Grundlage, für eine qualitativ neue Gesellschaft.

Soviel digitale Zukunft lässt hoffen oder? Doch ist mehr Demokratie wirklich das Wesen der Digitalisierung? Viel spricht dafür! Und noch mehr dagegen! Aktuell jedenfalls.

Die weltweit offene Ära des vordem militärischen Internets war kaum nutzbar, schon begannen neue Monopole das vermeintlich freie Netzwerk zu kapern. Sie dominieren inzwischen weltweit und sie wurden dadurch obendrein steinreich. Sie vermarkten Daten, auch ganz persönliche Daten, Ihre und meine.

Und wir liefern sie ihnen allzu oft kostenlos frei Haus, indem wir z. B bei Google suchen oder bei Facebook posten. Nein, ich bin keine Maschinenstürmerin und ich halte mitnichten ein Plädoyer gegen die Digitalisierung. Das wäre nicht links und zudem brotlos. Sie läuft und läuft, wie seinerzeit die Dampfmaschine, nur viel rasanter und weitreichender.

Nur über drei Punkte sollte man nicht hinwegsehen.

Erstens: Daten gelten als das neue Öl des 21. Jahrhunderts, wenn es um kapitale Geschäfte mit Milliarden-Profit geht. Zugleich hat nicht nur das Bundesverfassungsgericht wiederholt geurteilt: Datenschutz ist ein Grundrecht, unabdingbar für souveräne Bürgerinnen und Bürger, ohne die wiederum jedwede Demokratie unvorstellbar sei.

Zweitens: Die kapitalsten Datensauger empfehlen sich gekonnt als Glücksbringer und so werden sie auch gern genommen. Auch ich nutze Google, Facebook und mehr. Wohl wissend, dass es sich um Konzerne handelt, die uns allen fies ins Herz und schamlos ins Hirn schauen wollen, aber sich selbst nicht in ihre Karten, sprich Algorithmen, gucken lassen.

Drittens: Was den Daten-Imperialisten von Silicon Valley billig ist, ist Geheimdiensten aller Couleur nur recht. Spätestens seit den Enthüllungen von Edward Snowden über die NSA weiß man erneut, dass die viel gepriesenen westlichen Werte auch von Staats wegen attackiert werden, auch hierzulande. Dank Digitalisierung massiver denn je.

Alle drei Punkte laufen darauf hinaus, dass Bürgerinnen und Bürger zunehmend durchschaubar, berechenbar, manipulierbar werden. Wie im Horrorbuch »1984« von Georg Orwell.

Und so warnt auch Peter Schaar, derzeit Vorsitzender der Europäischen Akademie für Informationsfreiheit und Datenschutz (EAID), sinngemäß: Wir rasen wie weiland die Titanic auf einen Eisberg zu. Die Zeit, politisch noch umzusteuern, schwinde rasant. Er fordert ein stringentes Datenschutzrecht, das obendrein auch greift, mindestens EU-, besser noch weltweit. Allein das beschreibt eine Mammutaufgabe. Wohl wissend, dass dabei in der Europäischen Union vor allem Deutschland eher auf der Bremse steht, und dass die USA beim Datenraub gemeingefährlich »liberal« sind.

2013 nannte Bundeskanzlerin Angela Merkel das Internet »Neuland«. Dafür erntete sie massiv Häme. Von mir nicht. Denn das Internet von heute hat nur noch wenig mit dem der 1990er Jahre zu tun. »Big Data«, »Internet der Dinge« und »künstliche Intelligenz« sind inzwischen Kürzel für eine umfassende Digitalisierung der gesamten Gesellschaft. Und wer wagt ernsthafte Prognosen, womit wir es 2035 oder 2040 zu tun haben könnten? Allein der Umfang und die Dynamik dieser Entwicklungen lassen fragen: Wohin führen sie, in wessen Interesse, mit welchen Folgen? Und vor allem: Wie lassen sie sich gesellschaftlich, politisch und rechtlich gestalten?

Für die Wirtschaft und für soziale Belange mögen das andere beantworten. Mich bewegen hier Bürgerrechte und Demokratie, also letztlich die Rolle der Menschen bei alledem. Im Herbst 2016 wurde als Angebot für die Europäische Union der Entwurf einer »Digital Charta« veröffentlicht, besorgt und einladend. Die Stichworte der Autorinnen und Autoren sind Freiheit, Gleichheit, Würde. Sie seien massiv gefährdet, befürchten sie. »Neue Formen der Automatisierung, künstliche Intelligenz« und mehr verlangen endlich eine öffentliche Debatte darüber, mahnen sie. Ja, die ist überfällig.

Das Internet an sich ist frei und fähig, Wissen zu bündeln und zu verbreiten. Deshalb fordern Linke auch freien Zugang für jede und jeden als demokratisches Plus. Soweit die Gutsicht. Aber stimmt sie auch?

Die weltweit fünf größten Daten-Monopole, alle mit Hauptsitz im Silicon Valley, betrachten das Internet quasi als ihr Eigentum und genauso nutzen sie es. Experten warnen längst vor einer Big-Data-Diktatur. Und so überrascht auch die alternative Forderung nach einem neuen, parallelen Internet nicht. Organisiert nach öffentlich-rechtlichen Prinzipien, humanen Werten folgend. Noch scheint unklar, wie das wirklich aussehen könnte. Aber wahr ist leider auch: Derzeit führt der Anspruch »Internet für alle« de facto zur »Überwachung aller«.

Yvonne Hofstetter ist IT-Unternehmerin und alarmiert gerade deshalb höchst kompetent, was die Zukunft von Bürgerrechten und Demokratie in Zeiten einer pur-kapitalistischen Digitalisierung betrifft. Das belegen auch ihre zwei Bücher »Sie wissen alles« und »Das Ende der Demokratie«. Demnach werden wir es mit Rahmenbedingungen zu tun haben, die mit jenen im 20. Jahrhundert kaum noch vergleichbar sind. Yvonne Hofstetter erwägt zehn Alternativen für die Politik und für eine aktive Gesellschaft. Drei ihrer - viel weitergehenden - Gedanken seien kurz skizziert.

Erstens erinnert sie daran, dass Bürgerrechte noch nie vom Himmel gefallen sind oder vom Staat frei Haus geliefert wurden. Sie müssen durch eine engagierte Zivilgesellschaft wieder und wieder erkämpft werden.

Zweitens müssen der Staat und internationale Gemeinschaften gleichwohl verbindliche Regeln und klare Rahmen setzen, um die Digitalisierung und Bürgerrechte verträglich zueinander zu bringen.

Drittens sei es brotlos, mit erhobenem Zeigefinger auf die Dominanz der USA zu zeigen, solange die Digitalisierung hierzulande und EU-weit vergleichsweise stiefmütterlich behandelt werde.

Über alledem schwebt allerdings eine noch viel grundsätzlichere Frage, finde auch ich: Was, wenn durch die Digitalisierung künstliche Intelligenz nicht nur punktuell, sondern prinzipiell intelligenter wird, als menschliche? Wer hätte dann das Sagen? Und was wäre dann mit Bürgerrechten und Demokratie?

Gerade ob dieser und noch mehr Fragen sollte DIE LINKE als moderne sozialistische Bürgerrechtspartei ihre Zurückhaltung beim Thema Digitalisierung endlich ablegen und zügig auf Zukunft umschalten: sachlich, strategisch, programmatisch. Im grundsätzlichen Pro ebenso, wie im nötigen Kontra.

Petra Pau ist Abgeordnete der Linkspartei und Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages.

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