In der Tiefe des Freiraums

Holger Czukay, Musikgenie sowie Gründungsmitglied und Bassist der Gruppe Can, ist gestorben

  • Thomas Blum
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Tatsache, dass die von den frühen 70er Jahren bis heute international äußerst einflussreiche Kölner Band Can »zu keiner Zeit eine normale Rockgruppe« war, sondern eine »anarchistische Gemeinschaft«, wie der Keyboarder der Gruppe, Irmin Schmidt, einmal sagte, ist kaum zu unterschätzen, wenn es darum geht, den Einfluss der Band auf die Geschichte der modernen Popmusik auszuloten.

Can hat den Minimalismus, das Monotone, die Repetition, den hypnotischen Groove, aber auch das Klangexperiment dort eingeführt, wo zuvor meist nur - mal ödere, mal aufregendere - modernisierte Variationen dessen existierten, was man Rock ’n’ Roll nannte. Und weit mehr als um so Austauschbares wie Virtuosität ging es dem Kölner Musikerkollektiv um die Erzeugung von musikalischen Freiräumen.

Eines der besten Can-Alben kam 1984 heraus, als die Band bereits seit Jahren aufgelöst und zerfallen war. Es trug den Titel »Der Osten ist rot« und war gar kein Can-Album, sondern eine Soloplatte des überaus experimentierfreudigen Can-Bassisten Holger Czukay. Mit von der Partie waren seinerzeit der Can-Schlagzeuger Jaki Liebezeit und die Produzentenlegende Conny Plank. Czukay mischte auf dem Werk einiges, von dem man bis dahin annahm, es gehöre nicht zusammen: Analoges Synthesizerknurpseln wurde mit singenden Sägen und Akkordeonklängen gemixt, afrikanische Rhythmen wurden mit schluffigen Dub-Zeitlupenbeats kombiniert, die chinesische Nationalhymne wurde in Einzelteile zerlegt, mit Stolper-Beats verschnitten und neu zusammenmontiert, obskure Sprachsamples (etwa Ausschnitte aus Thomas Manns Radioansprachen aus dem Exil an die Deutschen) und andere disparate Tonbandschnipsel (vom Muhen von Kühen über Volksmusiktakte bis zum Fernsehansagerinnengeplapper) und -collagen waren zu hören neben johlender Freejazztrompete, Marschmusik und wunderlichen Geräuschen, die wie aus einem anderen Universum zu uns herüberwehten. All das wurde damals ohne moderne Computertechnologie hergestellt, also größtenteils analog. Klingen tut all das bis heute beschämend zeitgenössisch, moderner und wegweisender als vieles, das gegenwärtig produziert wird.

Czukay kümmere sich »nicht um die jeweils neuesten Pop-Moden, sondern tüftelt in geduldigen Arbeitsprozessen an skurrilen Musik- und Geräusch-Collagen«, hieß es damals, im Jahr 1984, im »Spiegel«. Zeit seines Lebens war der Musiker und Toningenieur ein unermüdlicher Klangforscher, Soundbastler und Erneuerer.

In den 60er Jahren spielte er noch in diversen Beatbands und erlernte in Westberlin das Kontrabassspiel. Komposition studierte er bei keinem Geringeren als dem Avantgarde-Komponisten Karlheinz Stockhausen, wo er auch gelernt haben muss, dass die Musik keine Sache ist, der man allzu enge Grenzen auferlegen sollte. Wenn die Freiheit, die man dem Menschen zu erstreiten hoffte, nicht schon in seiner Musik angelegt war, welchen Wert hatte sie dann?

Ebenfalls in den frühen 80ern sorgte er, genau diesem Geist folgend, also weiter Bedenkenlosigkeit im Umgang mit vermeintlichen musikalischen Grenzen waltend lassend, etwa mit den Platten, die er mit dem P.I.L.-Bassisten Jah Wobble aufnahm, maßgeblich für jene Atmosphäre der wuchernden Kreativität und des produktiven Chaos, von der man heute weiß, dass sie die Blütezeit der Postpunk- und frühen New-Wave-Ära auslöste.

Die »Frankfurter Allgemeine« bezeichnete in ihrem Nachruf Czukays Musik als »avantgardistisch-kryptisch«. Ja, für Menschen, deren musikalischer Horizont begrenzt ist, war sie das wohl vermutlich.

Am vergangenen Dienstag ist Czukay, geboren in Gdansk, im Alter von 79 Jahren in Weilerswist bei Bonn gestorben. Erst im Juli war seine Ehefrau Ursula verstorben. Bereits Anfang des Jahres war sein langjähriger Freund und Kollege, der Ausnahmeschlagzeuger Jaki Liebezeit, einer Lungenentzündung erlegen.

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