Wanted: Ein Facharbeiter, der den Spitzensteuersatz zahlt
Wie eine nd-Redakteurin auszog, einen zu finden, von dem in diesem Wahlkampf häufig die Rede ist
Liebe Leserin, lieber Leser,
wissen Sie eigentlich, wie viel Einkommenssteuer Sie zahlen und wann der Spitzensteuersatz greift? Und: Gehören Sie eventuell selbst zu jenen Menschen, die den Spitzensteuersatz zahlen müssen? Wenn dies zutrifft und Sie zudem noch Facharbeiter oder Facharbeiterin sind, würde sich die Redaktion des »nd« über Ihre Zuschrift freuen. Denn: Sie sind selten. Und das ist bemerkenswert, da der Verweis auf die spitzensteuersatzzahlenden Facharbeiter Politikern derzeit als Beleg dafür dient, dass die bisher gültige Grenze für den Spitzensteuersatz ungerecht ist, da eben auch die »hart arbeitende Mitte« - sogar Facharbeiter! - betroffen seien.
So behauptete Martin Schulz bei der Vorstellung des SPD-Steuerkonzeptes, dass selbst Facharbeiter schon den Spitzensteuersatz zahlen müssten, obwohl sie nicht vermögend sind. Kanzlerin Angela Merkel sprach von den Leuten, »die schon schnell in den Spitzensteuersatz geraten, Facharbeiter oder Menschen, die Überstunden machen«.
Nur: Die Suche nach einem solchen Facharbeiter für unsere Wahlserie nährte einen ungeheuren Verdacht. Es gibt ihn gar nicht. Er ist eine Kunstfigur. Ein Wahlkampfmythos, der herhalten muss, weil es schlicht nicht so gut klingt, Steuererleichterungen vor allem für Ärzte, Anwälte und Beamte zu fordern. Diesen Verdacht hat die Journalistin Ulrike Herrmann schon vor Wochen in der »taz« geäußert. Damals hielt ich das noch für Elendsverherrlichung, inzwischen denke ich, dass Frau Herrmann Recht hat.
Zur Erklärung: Es existiert keine amtliche Definition davon, was ein Facharbeiter ist. Gemeint ist in der Regel ein Mensch, der eine Berufsausbildung absolviert hat. Der Spitzensteuersatz wiederum ist ab einem zu versteuernden Jahreseinkommen von derzeit rund 54 000 Euro fällig und beträgt 42 Prozent. Das bedeutet, dass jeder Euro, der über diesem Betrag liegt, mit 42 Prozent besteuert wird.
Laut einer Antwort des Bundesfinanzministeriums auf eine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag zahlen 3,9 Millionen Menschen in Deutschland den Spitzensteuersatz, das sind 6,5 Prozent der Steuerzahler. Die Zahl ist in den vergangenen Jahren gestiegen. Fast alle Parteien - von CDU bis Linkspartei - finden das zu viel und wollen die Grenze für den Spitzensteuersatz anheben. Begründet wird dies - wie gesagt - immer wieder mit dem Hinweis auf den Spitzensteuer-Facharbeiter.
Nun ist ein Jahresgehalt von 54 000 Euro anständig, aber wahnsinnig hoch ist es nicht. Ein solches Einkommen wird auch in Branchen gezahlt, in denen Facharbeiter tätig sind. In der Metall- und Elektroindustrie beispielsweise. Aber: Zu versteuerndes Einkommen und Bruttoeinkommen sind nicht identisch. Auf letzteres gibt es Steuerfreibeträge. Ein unverheirateter Single müsste circa 64 000 Euro Bruttoverdienst aufweisen, um auf 54 000 Euro zu versteuerndes Einkommen zu kommen. Bei Verheirateten und/oder Menschen mit Kindern ist es noch einiges mehr. Selbst in den höheren Tarifgruppen der Metallindustrie, in die man als Facharbeiter eingestuft werden kann, ist unter Berücksichtigung dieser Freibeträge ein zu versteuerndes Einkommen von 54 000 Euro nur mit Zuschlägen, Gewinnbeteiligungen und Überstunden zu erreichen.
Zwei, die neben Merkel und Schulz zuletzt von spitzensteuersatzzahlenden Facharbeitern gesprochen haben, sind der linke Professor Christoph Butterwegge und der CDU-Politiker Michael Fuchs. Nach wochenlanger Spitzensteuer-Facharbeiter-Suche stelle ich eine Anfrage an die beiden: Ob Herr Butterwegge oder Herr Fuchs wissen, um wie viele Facharbeiter es denn eigentlich geht? Ist der spitzensteuersatzzahlende Facharbeiter wirklich so verbreitet, wie es die häufige Rede über ihn vermuten lässt?
Butterwegge antwortet, dass er normalerweise sage, »dass ein Facharbeiter bei BMW den Grenzsteuersatz von 42 Prozent erreichen kann, wenn er viele Überstunden macht«. Wie viele Facharbeiter es sind, auf die das zutrifft, wisse er auch nicht. Wichtig sei ihm der Punkt dennoch, weil er es ungerecht findet, dass auf Kapitaleinkommen nur 25 Prozent Steuern fällig werden, »wohingegen ein Facharbeiter von BMW, der viele Überstunden macht und Boni kassiert, den Spitzensteuersatz von 42 Prozent in der Einkommensteuer erreichen kann«.
Fuchs sagt: »Jahresgehälter können in Einzelfällen 60 000 Euro deutlich übersteigen. Je länger die Gehaltsgrenze für den Übergang in den Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuer nicht an die Preissteigerung angepasst wird, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass auch Facharbeiter in den Bereich der Spitzensteuer ›hereinwachsen‹«.
Die Frage, ob sie persönlich einen solchen Facharbeiter kennen, lassen beide unbeantwortet. Mich lässt diese Frage derweil nicht mehr los. Bei jeder Gelegenheit bringe ich das Thema in meinem Bekanntenkreis zur Sprache - irgendwann frage ich jeden, nicht nur die mit Berufsausbildung, wie viel Einkommenssteuer sie zahlen. Denn: Auf der Suche nach einem Facharbeiter mache ich eine zweite Beobachtung. Keiner, wirklich niemand, mit dem ich spreche, weiß auf Anhieb, ob er den Spitzensteuersatz zahlt. Einfach, weil keiner weiß, wann der greift. Ist das vielleicht gar kein Thema, das die Menschen bewegt?
Nach einer Reihe von Gesprächen mit gut verdienenden Facharbeitern und - später - mit anständig entlohnten Akademikern, ist das Fazit: Keiner wusste was vom Spitzensteuersatz. Und letztlich gehörte auch niemand zu den 3,9 Millionen, die ihn zahlen: Entweder lag das Einkommen dann doch unter der Grenze, zum Beispiel wegen selbstgewählter Teilzeit. Oder aufgrund von Steuerfreibeträgen wurde die Grenze nicht erreicht.
Nun ist eine Reporterin kein Umfrageinstitut. Und sicherlich gibt es den einen oder anderen Facharbeiter, der Single und kinderlos ist, seit Jahren Vollzeit in einem Metallbetrieb arbeitet, nach Tarifvertrag entlohnt wird, zudem Boni erhält, Überstunden macht - und so den Spitzensteuersatz zahlen muss. Aber meine Vermutung ist: Das ist die absolute Ausnahme, nicht die Regel.
Daher noch einmal die Bitte, liebe Leserin und lieber Leser: Wenn Sie Facharbeiter sind und den Spitzensteuersatz zahlen müssen, melden Sie sich. Wir hätten da ein paar Fragen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.