Tränengas gegen den Aufstand der Faulenzer
Hunderttausende protestierten in Frankreich gegen Arbeitsmarktreform / Linkenpolitiker Mélenchon plant weitere Demonstrationen
Wie oft er im Laufe seines Lebens für das Arbeitsrecht demonstriert habe, könne er nicht mehr sagen. »Seit 1945 gehe ich auf Demonstrationen«, erzählt Lucien Guth, mit 93 Jahren wohl ältester Teilnehmer der Proteste gegen die Arbeitsmarktreform von Präsident Emmanuel Macron in der Straßburger Innenstadt. »Es kann nicht angehen, dass für die Reformen Rentner für Milliardäre zur Kasse gebeten werden«, sagt der ehemalige deutsche Kriegsgefangene und langjährige Gewerkschafter.
Der Rentner ist einer von Hunderttausenden, die am Dienstag gegen den von Macron geplanten Abbau der Rechte von Beschäftigten auf die Straße gingen. Wie immer gehen die Zahlen von Polizei und Veranstaltern weit auseinander: Insgesamt schlossen sich laut Innenministerium 223.000, laut dem linken Gewerkschaftsverband CGT über 400.000 Menschen den Protesten in mehreren Städten an.
In Straßburg war die Beteiligung mit 2.600 Demonstranten etwa um die Hälfte geringer als gegen die Arbeitsmarktreform der Vorgängerregierung im Frühjahr und Sommer 2016. »Wir möchten nicht unsere Rechte verlieren wie die Deutschen durch Hartz IV«, erklärt französische der Finanzbeamte François Jaby. »Was in Deutschland passiert ist, steht den Franzosen nun bevor«, pflichtet Dietmar Hajek ihm bei, der mit Fahrrad, roter ver.di-Fahne und DGB-Mütze aus der Nähe von Darmstadt angereist ist. »Ich bin übrigens nicht stolz auf den Titel Exportweltmeister«, sagt Hajek. Durch dieses »uneuropäische Verhalten« müssten sich andere Länder wie Frankreich verschulden.
Reform baut auf Minimierung des Kündigungsschutzes
Eine erste Reform soll in Frankreich bereits Ende September verabschiedet werden. Der Gesetzesvorschlag beinhaltet einige Regelungen zum Abbau des Kündigungsschutzes. So sollen Abfindungszahlungen bei ungerechtfertigten Kündigungen begrenzt, betriebsbedingte Kündigungen in internationalen Konzernen erleichtert und Mitbestimmungsmöglichkeiten von Gewerkschaften verringert werden. »Die gesamten Pläne der Regierung sind in unseren Augen ein Rückschritt«, erklärte Alexandre Goncalves, Mitglied bei den Straßburger Grünen. Und Karin Binder, LINKE-Bundestagsabgeordnete aus Karlsruhe, kritisierte: »Mit den Reformen möchte man Menschen einschüchtern, sich mit niedrigen Löhnen zufrieden zu geben.«
Mobilisiert hatte zu den Protesten vor allem der linke Gewerkschaftsverband CGT. Deren Fahnen dominierte auch die Großdemonstration mit rund 50.000 Teilnehmern in Paris. Von den beiden anderen Gewerkschaftsdachverbänden CFDT (Confédération française démocratique du travail) und Force Ouvrière (FO), deren jeweilige Führung nicht zum Protestieren aufgerufen hatte, kamen einige Hundert Mitglieder. Zuvor hatte FO-Generalsekretär Jean-Claude Mailly sich faktisch auf Regierungsseite gestellt, was in seinem Verbund jedoch umstritten ist. Die linken Basisgewerkschaften der Union Syndicale Solidaires beteiligten sich ebenfalls.
Bewegung der Faulenzer gegen Macron
Zu den auf selbst gemalten Schildern und Transparenten am häufigsten benutzten Slogans zählte Abwandlungen von »Ich bin ein Faulpelz«, auch in der Variante: »Die Faulenzer nehmen sich einen unbezahlten Tag Urlaub, gegen Eure Reform!« Es handelte sich um eine ironische Antwort auf einen Ausspruch Macrons, welcher am Freitag auf einer Pressekonferenz von Athen aus und mit Blick auf den Protest verkündete: »Ich werde den Faulen, den Zynikern und den Extremisten in nichts nachgeben.« Macron hatte in der Vergangenheit Arbeiterinnen in der Bretagne als »Analphabetinnen« und im Frühjahr 2017 Einwohner der Armutsregion Nord-Pas de Calais als »Alkoholiker« genannt. Auch seine jüngste Aussage sorgte für Empörung, erschien sie doch als neues Anzeichen von Arroganz gegen die sozialen »Unterklassen«. Regierungssprecher Castaner versuchte den Eindruck zu korrigieren: Macron habe reformunwillige Politiker mit den »Faulenzern« gemeint.
Insbesondere die linksradikalen Teilnehmer bekamen auf einigen der Protestzüge schnell Probleme mit der Polizei. In Paris lief ein größerer schwarz-bunter Block mit teils vermummten Teilnehmern den Gewerkschaftern voraus. Kurz vor Ende der Demonstration kam es kurzzeitig zu Rangeleien mit den Sicherheitskräften, die man von Regierungsseite bereits vorab heraufbeschworen hatte. Regierungssprecher Christopher Castaner hatte am Samstag verkündet, er »befürchte gewalttätige Ausschreitungen«. Es explodierten polizeiliche Schockgranaten und ein Wasserwerfer kam zum Einsatz. Die Reibereien hielten sich in Paris dennoch in Grenzen. In Lyon wurden bereits zu Beginn der Proteste Demonstranten festgenommen und Tränengas gegen den Protestzug eingesetzt. Die Gewerkschafter forderten ihre Entlassung und weigerten sich über Stunden, die Demonstration ohne die Festgenommenen fortzuführen.
»Martinez hat gewonnen, doch Macron hat nicht verloren«: In diesen Worten resümierte die sozialdemokratische Pariser Tageszeitung Libération am Mittwoch früh die Wirkung der Proteste. Den französischen Medien zufolge hat die soziale Protestbewegung, angeführt durch den Generalsekretär der CGT, Philippe Martinez, am Dienstag einen Mobilisierungserfolg erzielt. Doch der Staatspräsident gibt sich unbeeindruckt. Arbeitsministerin Muriel Pénicaud sagte am Mittwoch dem Sender BFMTV, man werde in den Plänen nicht zurückweichen, sie seien ein Wahlkampfversprechen und dazu notwendig, die Arbeitslosigkeit zu senken. Am 21. September ruft die CGT zu einem erneuten Aktionstag auf – der Linkspolitiker Jean-Luc Mélenchon und seine Bewegung »La France Insoumise« rufen zwei Tage später zu einem »Volksprotest« auf.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.