Für eine inklusive Klassenpolitik

Warum eine bloße Rückkehr zu klassischer sozialdemokratischer Verteilungspolitik nicht ausreicht. Teil II

  • Klaus Dörre
  • Lesedauer: 9 Min.

Wie unsere soziologischen »Tiefenbohrungen« ins Arbeiterbewusstsein zeigen, lassen sich dort Empfindungen finden, einer Großgruppe anzugehören, deren Leistungen gesellschaftlich nicht ausreichen anerkannt werden. Diese sind in ein Gesellschaftsbild eingelagert, das strikt zwischen oben und unten unterscheidet.

Mit einem festen Job und einem halbwegs guten Einkommen glauben Arbeiterinnen und Arbeiter, alles erreicht zu haben, was sie erreichen können. Man bezeichnet sich weder als arm noch als prekär und rechnet sich oftmals der mittleren Mittelschicht zu. Mittlere Mitte, das heißt auch: nach oben geht nicht mehr viel, ein Absturz nach unten ist hingegen jederzeit möglich. Denn – und das ist neu – in sozialer Nachbarschaft zum Arbeiterdasein lauern Armut, Ausgrenzung und Prekarität.
Arbeiter, zumal einfacher Produktionsarbeiter zu sein, bedeutet in der Gegenwart, in einer Gesellschaft mit dynamischen Arbeitsmärkten festzustecken. Man erlebt den Rückgang der Arbeitslosigkeit und glaubt dennoch nicht daran, dass sich das eigene Leben grundlegend bessert. Allerdings ist man nicht »ganz unten«. Man hat noch immer etwas zu verlieren und man kennt andere, denen es, sei es weitaus schlechter geht.

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Dieses Grundbewusstsein, das wir unabhängig von der politischen Orientierung bei allen Befragten aus der Arbeiterschaft antreffen, zeugt von einer verdrängten Klassenproblematik. Trotz 40-Stunden-Woche und Doppelverdienst lebt man mit zwei Kindern und Löhnen um 1600 Euro brutto in einem Knappheitsregime. Jede größere Anschaffung, jede Reparatur am Auto wird zum Problem. Urlaub ist kaum möglich, und selbst für den Restaurantbesuch am Wochenende reicht das Geld in der Regel nicht. Angesichts dieses Knappheitsregimes betrachten sich viele der befragten Arbeiterinnen und Arbeiter als unverschuldet anormal. »Jeder Deutsche hat ein Grundgehalt von 3300 Euro im Durchschnitt. Dann frage ich mich, was bin ich dann? Bin ich kein Deutscher? Die normalen Dinge, die man sich als Ausgleich mal gönnt, das geht nicht«, erklärt uns ein gewerkschaftlich aktiver Produktionsarbeiter im Interview.

Wichtig ist die semantische Verschiebung. Das Deutschsein wird zur Chiffre, die den Anspruch auf einen »normalen« Lohn, ein »normales Leben« transportiert. Dieser Anspruch wird zu einem exklusiven, weil er Normalität nur für Deutsche einklagt. Arbeiter, die so argumentieren, sind überwiegend keine gefestigten Rechtspopulisten oder -extremisten, wenngleich wir in den Betrieben vermehrt Aktivisten treffen, deren Urteile bereits einer politischen Linie folgen.
Befragte, die für eine exklusive Solidarität plädieren, welche sich nicht nur von »oben«, sondern auch gegenüber »anders« und »unten« abgrenzt, fühlen sich nicht unbedingt abgehängt, doch sie sie unzufrieden. Je geringer ihre Hoffnung ist, in den Verteilungskämpfen zwischen oben und unten erfolgreich zu sein, desto eher tendieren sie dazu, diesen Konflikt in eine Auseinandersetzung umzudeuten, die zwischen leistungsbereiten Inländern und vermeintlich leistungsunwilligen, kulturell nicht integrierbaren Eindringlingen ausgetragen wird.

Auffällig ist, dass gewerkschaftliches Engagement für mehr Verteilungsgerechtigkeit und Plädoyers für Flüchtlingsabwehr nicht als Widerspruch, sondern als unterschiedliche Achsen ein und desselben Verteilungskonflikts begriffen (oben versus unten, innen versus außen) werden. Dabei neigen selbst aktive Gewerkschafter und Betriebsräte mitunter zu einer Radikalität, die vor allem hinsichtlich ihrer Gewaltakzeptanz (Gewalt gegen Geflüchtete als »Notwehr«), überrascht. Es handelt sich wohl um eine Art des Aufbegehrens, wie es August Bebel, den Antisemitismus vieler sozialdemokratischer Arbeiter vor Augen, einst als »Sozialismus der Narren« bezeichnet hat.

Diesem vermeintlichen Sozialismus dient das Ressentiment als bevorzugtes Mittel im Kampf um Statuserhalt. Das macht ihn für die Botschaften eines völkischen Populismus empfänglich, der dēmos, das Staatsvolk, durch éthnos, ein durch Geburt, Blutsbande und Tradition konstituiertes Volk von Eingeborenen ersetzt. Mit dem éthnos verfügt dieser Populismus über einen Kausalmechanismus, der deutsche Arbeiter als Teil des ethnischen Volkes symbolisch aufwertet, indem es andere, fremde Bevölkerungsgruppen mit kollektiver Abwertung straft. Auf diese Weise zum Treibsatz einer Revolte, die, weil sie den Reichtum der Privilegierten schützt und bestehende Klassenverhältnisse konserviert, ein lediglich fiktive bleiben muss.

Dass Ungleichheits- und Unsicherheitserfahrungen derzeit nur sehr begrenzt zum Katalysator für solidarisches Klassenhandeln werden, hat mehrere Ursachen.
Erstens sind die Kausalmechanismen, die Ausbeuter und Ausgebeutete im globalen Finanzmarkt-Kapitalismus verbinden, derart komplex, dass sie nur schwer zu durchschauen sind. Von der betrieblichen Erfahrungswelt sind jene Entscheidungszentren, die Unsicherheit und Ungleichheit steigern, räumlich wie sozial weit entfernt. Das fördert simplifizierende Deutungen und verschwörungstheoretische Interpretation.

Zweitens haben sozialstruktureller Wandel und die Prekarisierung der Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisse im Verbund mit einem harten Klassenkampf von oben die wichtigsten Kräfte einer politischen Ökonomie der Arbeitskraft – Gewerkschaften, sozialdemokratische, sozialistische und (euro)kommunistische Parteien – soweit geschwächt oder zerstört und wohlfahrtsstaatliche Institutionen in ihrer marktbegrenzenden Wirkung derart zurückgestutzt, dass selbst systemstabilisierende Umverteilungsmaßnahmen nicht mehr funktionieren. Drittens werden die Mitte-Links-Parteien, die deutsche Sozialdemokratie eingeschlossen, aus der Perspektive ehemaliger Arbeiter-Stammwähler noch immer eher als Verursacher des Problems, denn als Teil der Lösung betrachtet. Mit ihrer Hinwendung zu einem Dritten Weg à la Tony Blair und New Labour oder der Agenda-2010-Politik der deutschen Sozialdemokratie akzeptierten diese Parteien die marktgetriebene Globalisierung als einen Sachzwang, dem sie mittels Anpassung, durch Bescheidung oder Enteignung von kollektivem Sozialeigentum begegnen zu können glaubten. Als Folge macht sich eine »Entproletarisierung« (Line Rennwald) der Mitte-Links-Parteien bemerkbar, die ihnen jegliches Gespür für Verwerfungen in den prekären und Arbeiterklassenlagen genommen hat.

Die Schwächung sämtlicher Spielarten sozialer Korrektive hat zur Herausbildung neuer Klassengesellschaften beigetragen, über deren Anatomie wir unter anderem mangels geeigneter Forschungen gegenwärtig nur wenig wissen. Die Grundtendenz ist jedoch eindeutig.
Das einigermaßen rasche Wachstum in den großen und kleinen Schwellenländern, das dort Mittelklassen expandieren lässt, geht zulasten von beherrschten Klassen in den alten Metropolen. Hauptgewinner der Globalisierung sind die reichen Eliten, die noch immer überwiegend in den alten Zentren leben. 44 Prozent des Einkommenszuwachses, der zwischen 1988 und 2008 erzielt wurde, entfallen auf die reichsten 5 Prozent, nahezu ein Fünftel auf das reichste eine Prozent; die aufstrebenden Mittelklassen in den Schwellenländern verfügten lediglich über zwei bis vier Prozent der absoluten Zuwächse.

Solche Daten verweisen auf einen Kausalmechanismus, den Thomas Piketty eindringlich beschreiben hat. Ohne Umverteilung zugunsten der Beherrschten übersteigt das Wachstum der Kapitalrendite (r = return) stets das der Wirtschaftsleistung (g = growth), es gilt r>g. Wenn die Wirtschaftsleistung sinkt, wird zwar in der Tendenz auch die Vermögensrendite reduziert, das geschieht aber zeitverzögert. Bleiben gegensteuernde Umverteilungsmaßnahmen aus, forcieren niedrige Wachstumsraten die Vermögens- und Einkommensungleichheit zusätzlich.

Für die Verlierer, hauptsächlich die Industriearbeiterschaft der alten Zentren, entfällt damit zunehmend, was der Ex-Weltbanker Branko Milanovic trickreich als »Ortsbonus« der Reichtumsverteilung bezeichnet. Das »Privileg«, in einem reichen Land geboren zu sein, schützt nicht mehr vor sozialem Abstieg. Statistisch drückt sich dies vorerst nur in einer geringfügigen Veränderung der Ortskomponente aus.

Doch Milanovic ignoriert, dass die Ungleichheit zwar immer stärker inter- und transnational produziert, aber von den beherrschten Klassen noch immer vorwiegend innerhalb des nationalen Container be- und verarbeitet wird.

Das ließe sich ändern – mit einer inklusiven Klassenpolitik, die verdeckte Ausbeutungsmechanismen wieder beim Namen nennt und demokratische Umverteilung fördert. Dazu ist es notwendig, öffentlich-politisch, aber auch wissenschaftlich wieder über Klassenverhältnisse zu diskutieren.
Es genügt jedoch nicht, auf die performative Wirkung solcher Begriffe zu vertrauen. Klasse und Ausbeutung sind analytische Kategorien, jedoch keine Begriffe, die für politische Mobilsierungen taugen. Eine popular-demokratische, nicht populistische (Stuart Hall), das heißt immer auch mit Emotionen und Leidenschaft betriebene Klassenpolitik, kann nur darüber wirken, dass sie klassenpolitischen Themen zu hegemonialer Ausstrahlung verhilft. Der Vorschlag für ein neudefiniertes Normalarbeitsverhältnis, wie ihn Bernd Riexinger und Lia Becker unlängst vorgelegt haben, ist ein solcher Versuch. Er stellt in Rechnung, dass inklusive Klassenpolitik sich nicht ausschließlich auf Produktionsarbeiter beziehen darf. Deshalb schlägt er eine Brücke von der Lohnungerechtigkeit bis hin zur kurzen Vollzeitbeschäftigung für alle.

Dieser Vorschlag zeigt auch: Es gibt ein Vorwärts und ein Rückwärts zur Klassenpolitik. Rückwärts heißt, Partikularinteressen von – vorwiegend männlichen – Produktionsarbeitern zu allgemeinen Anliegen zu erklären und diese gegen sogenannte identitätspolitische Themen auszuspielen. Um ein Zurück zu – in diesem Fall nur noch vermeintlicher – Klassenpolitik handelt es sich auch, sofern in Reaktion auf den Rechtspopulismus Flüchtlingsabwehr, harte Abschiebungspolitiken und restriktive Asyl- und Einwanderungspolitiken zum Kernprogramm einer Linken werden, die immer noch glaubt, den neuen Fluchtbewegungen mittels Abschottung an den europäischen oder den nationalen Außengrenzen begegnen zu können. Gegen solche Tendenzen hilft es aber ebenfalls nicht, den Innen-außen-Konflikt der Rechtspopulisten mit umgekehrten Wertungen betreiben zu wollen. Die Lohnabhängigenklassen der alten kapitalistischen Zentren, die ihre gesellschaftliche Position wesentlich einer Internalisierung von Sozialkosten, also wohlfahrtsstaatlichem Kollektiveigentum verdanken, sind, anders als Branko Milanovic behauptet, keine Arbeitereliten, die von der Not im globalen Süden in erster Linie profitieren.

Anstatt die Grenzen zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten zu verwischen, muss es deshalb ein Anliegen demokratischer Klassenpolitik sein, das kollektive Selbstbewusstsein von Lohnabhängigen zu stärken. Da ist nur möglich, wenn Klassenpolitik der Intersektionalität von Klassenverhältnissen, ihrer Verschränkung mit den Konfliktachsen Ethnie/Nationalität, Geschlecht und ökologische Nachhaltigkeit Rechnung trägt.

Zu den wichtigsten Klassenfraktionen der zählen heute beispielsweise die überwiegend weiblichen Beschäftigten in den Sozial- und Erziehungsdiensten, die 2015 in einem sechswöchigen Streik einen exemplarischen Kampf für die Aufwertung professioneller, vorwiegend von Frauen ausgeübter Reproduktionsarbeit führten. In diesem Fall konstituierte Sorgearbeit, die auf Zuwendung, Emotionalität und Engagement beruht, ein neues Facharbeiterinnenbewusstsein, das zur wichtigsten Ressource einer konfliktfähigen sozialen Bewegung wurde.

Das Beispiel veranschaulicht, was der schwedische Sozialwissenschaftler Göran Therborn allgemeiner formuliert hat: Die größten Erfolge haben Bewegungen gegen sexistische und rassistische Diskriminierung immer dann erzielt, wenn auch der demokratische Klassenkampf zugunsten der Lohnabhängigen einigermaßen erfolgreich war. Die 1968-Revolte entdeckte den Klassenkampf neu. Zugleich war sie aber eine kulturelle Rebellion für sexuelle Befreiung, Frauenemanzipation, Bürgerrechte und in ihrer Spätwirkung auch ein Aufstand zugunsten ökologischer Nachhaltigkeit.
Unter den Bedingungen einer ökonomisch-ökologischen Zangenkrise kann es weder in den nationalen als auch in den europäischen und internationalen Arenen um eine bloße Rückkehr zu klassischer sozialdemokratischer Verteilungspolitik gehen. Wir befinden uns inmitten einer großen gesellschaftlichen Transformation, in der »Pflästerlipolitik« nicht mehr ausreicht.

Inklusive Klassenpolitik bedeute deshalb auch, glaubwürdige Alternativen zum Kapitalismus auszuloten: »Im Kern geht es darum, die Verteilungsfrage auszuweiten. Neben der steuerlichen Rückverteilung des gesellschaftlichen Reichtums im Nachhinein braucht es eine gerechte Verteilung wirtschaftlicher Entscheidungsmacht«, heißt es in einem – man staune – Ende 2016 beschlossenen Papier der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz.

Der Autor

Klaus Dörre, Jahrgang 1957, zählt zu den profiliertesten Soziologen der Bundesrepublik. Er war Geschäftsführender Direktor des Forschungsinstituts Arbeit, Bildung, Partizipation an der Ruhr-Universität Bochum und lehrt seit 2005 Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Dort initiierte er 2009 das Zentrum für interdisziplinäre Gesellschaftsforschung. Dörre ist Gründungsmitglied des Institut Solidarische Moderne und engagiert sich im wissenschaftlichen Beirat von Attac. Zuletzt erschienen von ihm unter anderem »Soziologie – Kapitalismus – Kritik: Eine Debatte« (zusammen mit Stephan Lessenich und Hartmut Rosa bei Suhrkamp) und »Kapitalismustheorie und Arbeit. Neue Ansätze soziologischer Kritik« (als Herausgeber bei Campus).

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