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Am Ende bleiben die Geschichten
Mohammad Al Attar und Omar Abusaada fragen, was Krieg mit Menschen und Orten macht
Das syrische Künstlerduo Mohammad Al Attar und Omar Abusaada kommt in diesem Monat gleich mit zwei großen Arbeiten in Berlin heraus. Den Anfang macht »Aleppo. A Portrait of Absence« an diesem Donnerstag im Haus der Kulturen der Welt. Es folgt am 30. September im Rahmen der neuen Volksbühnenintendanz »Iphigenie« im Hangar 5 des ehemaligen Flughafens Tempelhof.
Beide Inszenierungen setzen sich mit der Situation in Syrien sowie der Situation der Syrer in der Diaspora auseinander. Dabei schlagen Al Attar, von Hause aus Dramatiker, und Abusaada, gelernter Regisseur, geradezu komplementäre Wege ein. Für »Aleppo« wurden mit gegenwärtigen und früheren Bewohnern der Stadt Interviews geführt, die nun verdichtet und ins Englische übersetzt in einer 1:1-Situation von jeweils einem Schauspieler einem einzigen Zuschauer vermittelt werden.
»Es geht uns darum, die komplexe Geschichte dieser Stadt und ihrer sehr vielschichtigen Bevölkerung erzählend wieder ins Bewusstsein zu bringen. Deshalb befragten wir die Bewohner zu einem übergreifenden Thema: einem für sie bedeutsamen Ort in der Stadt. Aus diesen Erzählungen setzt sich dann ein Panorama der Stadt zusammen«, sagt Al Attar. Die Orte, die die Gesprächspartner ausgewählt haben, waren sehr individuelle: ein Haus in einem eher vernachlässigten Teil der Altstadt, das restauriert und zu einem Kulturzentrum ausgebaut wurde. Ein Kaffeehaus, in dem ein jüngerer Mann die Stadt kennenlernte und sich auch politisch bildete. Oder das Straßenpflaster vor dem Haus eines Schusters, auf dem er den Abdrücken der vielen Füße nachzusinnen versuchte, die im Laufe der Jahrhunderte darübergegangen waren.
Die jüngste Geschichte Aleppos kommt spätestens dann herüber, wenn klar wird, dass die meisten Erzähler nicht mehr zu »ihren« Orten kommen können. »Viele sind in der Diaspora. Aber selbst die wenigen, die in Aleppo geblieben sind oder dorthin zurückkehrten, haben nicht immer Zugang zu diesen Orten. Das Kaffeehaus, von dem der junge Mann erzählt, ist zum Beispiel zerstört. Das Kulturzentrum wurde 2012 geschlossen. Im Krieg wurde das Gebäude dann zerstört. Andere Orte befinden sich in einem Teil der Stadt, in den die Bewohner nicht dürfen«, schildert Al Attar. Die Orte sind also abwesend und nur über die Erinnerung zugänglich. Das Performancesetting von je einem Schauspieler und einem Zuschauer am Tisch soll dieses Gefühl von Abwesenheit, von verwehrtem Zugang und von einer Ahnung, dass da mehr ist, als man zu Gesicht bekommt, verstärken.
»Iphigenie«, im Hangar von Tempelhof, verfolgt eine komplett andere Strategie. Alle Performerinnen sind für alle Zuschauer jederzeit anwesend. In ihren Erzählungen über eigene Flucht- und Diaspora-Erfahrungen nutzen sie das Gerüst des antiken »Iphigenie«-Stoffes. Für Al Attar und Abusaada ist dies bereits die dritte Arbeit in diesem Format. 2013 entstanden in Jordanien mit geflüchteten Syrerinnen »Die Troerinnen« als »Syria Trojan Women«. Vor zwei Jahren entwickelten beide in Beirut »Antigone of Shatila«. In allen Tragödien des Euripides geht es um Opferungen von Frauen, um Gewalt gegen sie, um ihre besonderen Leidenserfahrungen und ihren Kampf dagegen.
»Frauen in Syrien fechten viele Kämpfe aus. Einer davon ist der gegen die politischen Machthaber. Sie kämpfen zugleich aber auch gegen soziale Widerstände, patriarchale Systeme und Voreingenommenheiten. Manchmal ist von allen diesen Kämpfen der gegen die politischen Autoritäten noch der am wenigsten schwere und gefährliche«, hat Al Attar beobachtet.
Beide sahen in ihren Performerinnen jeweils die Troerinnen, Antigone und Iphigenie, verkörpert. Unter den »Antigone«-Spielerinnen gab es sogar eine, deren eigene Erlebnisse wie eine Spiegelung der Geschichte der dramatischen Figur wirken. »Auch sie verlor zwei Brüder und konnte einen von ihnen nicht begraben. Wir haben das erst später im Probenprozess erfahren«, erzählt Abusaada.
Auch im Schicksal der Iphigenie und der aktuellen Spielerinnen gäbe es Parallelen, sagt Al Attar. »Alle haben Opfer gebracht. Sie haben teils ihre Familie verlassen, ihr Umfeld, haben ihr Studium abgebrochen. Sie gingen in ihrer Karriere zwei Schritte zurück. Manchmal flohen sie, weil sie ihr Leben retten mussten, manchmal aber auch, um die Last für die anderen leichter zu machen.«
Für die Spielerinnen, in Berlin allesamt Laien, stellt die Auseinandersetzung mit dem dramatischen Stoff auch eine Art Selbstvergewisserung dar. Für das Publikum wird ein in der abendländischen Kultur fest verankerter Rahmen genommen, um Erfahrungen aus der Region südlich des Mittelmeers zu vermitteln.
In Aleppo wiederum wird durch die Abgabe der Interviews an die Schauspieler das Übersetzungs-, Übertragungs- und auch Verfremdungsproblem erfahrbar gemacht, unter dem viele Syrer leiden, wenn sie ihr Land und die Ereignisse dort in den Medien widergespiegelt finden. »Syrer haben in den vergangenen Jahren immer wieder die Erfahrung machen müssen, dass ihren eigenen Erzählungen kaum zugehört wurde und die narrativen Strukturen der internationalen Medien das Sprechen über Syrien prägten. Einer dieser Irrtümer ist, dass erst 2011 der Kampf gegen die Diktatur begann. 2011 war ein Höhepunkt, das ja. Aber es gab schon in den Jahrzehnten zuvor, seit den 60er Jahren, Protestwellen. Dieser ganze Kontext wird meist ausgeblendet«, meint Al Attar.
Beide Produktionen versprechen Blicke auf Syrien jenseits der einschlägigen Perspektiven. Abusaada und Al Attar sind auch ohne das »Top Thema« der Situation in ihrer Heimat bemerkenswerte Künstler. Sie arbeiten seit 2008 zusammen und kreierten unter anderem Inszenierungen in einem Jugendgefängnis in Syrien, arbeiteten in abgelegenen ländlichen Regionen sowie mit palästinensischen und irakischen Flüchtlingen in Syrien. Dass mittlerweile »Syrer« als Synonym für Geflüchtete gelten kann, zumindest in Deutschland, ist für Abusaada, der weiterhin in Damaskus lebt, und Al Attar, der mittlerweile hauptsächlich in Berlin ist, eine so bizarre wie tragische Wendung.
»Aleppo. A Portrait of Absence« am 21., 22. und 23. September im Haus der Kulturen der Welt, John-Foster-Dulles-Allee 10, Tiergarten. »Iphigenie«, Premiere am 30. September im Hangar 5 des ehemaligen Flughafens Tempelhof
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