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Renn um dein Leben
Nico Freitag ist in Freital aufgewachsen, jenem Ort in Sachsen, in dem es vor zwei Jahren zu Krawallen während einer Anti-Flüchtlingsdemo kam. Wenn er an seine Jugend denkt, denkt er an Hetzjagden und sehr viel Hass. Protokoll einer Abrechnung.
Der Neger muss brennen«, sagt Nico vor sich hin und verdreht die Augen, während er an seinem Joint zieht. Was es mit dem Ausspruch auf sich hat, erklärt er im tiefsten Sächsisch, was eigentlich nichts Besonderes ist. Nico ist nicht der Sender dieser Aussage, er ist der Empfänger. Der »Neger«. Nico Freitag (23) ist Sohn einer Ostdeutschen und eines Mosambikaners. Kennengelernt haben sich seine Eltern in Freital, Nicos Geburtsort. »Freital ist wunderschön. Alles ist grün und idyllisch, wie in einem Kinderfilm von Disney«, sagt er, »wenn da nur nicht diese Unmenschen wären.« Mit »Unmenschen« meint er die rechten Einwohner seines Heimatortes. Auf die Frage, wie hoch er deren Anteil an den Bewohnern in Freital schätzt, antwortet er: »Damals 70 Prozent und heute 85.« Die Zahl der Hassenden sei wegen der Flüchtlinge, die im Ort untergebracht wurden, gestiegen. Früher hatten sie nur die beiden schwarzen Jungs, auf die sie ihren Hass projizieren konnten, Nico und seinen Freund Kevin.
»Freital ist eine lange Straße, an der 40 000 Menschen leben.« Nico geht hart ins Gericht mit seinen Mitbürgern, beschreibt sie als ungebildet, unkultiviert und schwer asozial. Freital, das ist die Kleinstadt, in der es vor zwei Jahren Krawalle während einer Demonstration gegen eine Flüchtlingsunterkunft gab und die seither als Synonym für Fremdenfeindlichkeit steht. Auf die Frage, wie es so weit kommen konnte, erklärt Nico, dass sie wohl frustriert seien, weil es in und um Freital keine Perspektiven für ein normales Leben gibt. Es gebe da nichts, wodurch man sich weiterentwickeln könne, weder beruflich noch gesellschaftlich. Auf intellektueller Ebene gebe es da nichts zu holen, sagt er. Also bleibe man unten oder steige noch tiefer in der Gesellschaftsspirale ab.
Wenn nichts los war, blieben nur Drogen und Alkohol als Ausweg, erzählt Nico von seiner Jugend. Drogen und Alkohol gibt es nicht kostenlos. Entweder man wird kriminell oder nimmt das Billigste: Crystal Meth. In Freital gebe es unzählige Opfer dieser Droge. Drogen waren aber nicht Nicos Problem, sondern dass außer ihm und seinem Freund Kevin niemand eine so offensichtliche Minderheit in Freital darstellte. Die beiden mussten oft dran glauben. Immer wenn sie irgendwo abhingen, hieß es: rennen. Niemand half den beiden. Manchmal bewarfen Jugendliche sie mit Benzin und liefen ihnen mit brennenden Feuerzeugen hinterher.
Nicos Eltern trennen sich, als er zwei Jahre alt ist. Eine Bindung an das, was ihm all diesen Hass bringt, hatte er nie. Mit der Heimat seines Vaters war er nie vertraut. Aber genau deswegen, weil er so aussieht wie sein Vater, bedrängt man ihn schon in früher Kindheit. Immer wieder nennen sie ihn »Bimbo«, fragen, was er hier in Deutschland wolle. Warum er nicht wieder nach Afrika gehe, wo er nie war. In der Grundschule bekommt das Hassen ein Gesicht. Es wird konkreter. Mitschüler spucken Nico an. Sie beginnen, ihn zu schlagen und zu treten. Die Lehrer unternehmen nichts.
Seine Mutter hält es nicht mehr aus. Sie zieht die Reißleine, als Nico wieder einmal mit zerrissenen Klamotten und einem blauen Auge nach Hause kommt. Sie geht mit ihm nach Erbach bei Mannheim. Dort lebt der neue Freund der Mutter, ein Türke, der schon bald sein Stiefvater wird. Bei den Türken habe er sich immer wohl gefühlt, sagt Nico. Sie finden es eher lustig, dass er eine andere Hautfarbe hat. Manche seiner Schulfreunde vergleichen ihn mit farbigen Prominenten wie Will Smith oder Mike Tyson. Gehasst wird er von niemandem.
Zwei Jahre später trennt sich seine Mutter wieder. In Erbach haben die beiden keinen, also ziehen sie zurück nach Freital. Das Mobben geht wieder los. Das Hassen folgt auf dem Fuß. Wieder: rennen. Auf dem Pausenhof in der Schule trifft Nico Kevin wieder, der nicht mehr mit ihm spricht. Kevin hatte seine Chance bekommen, als Deutscher anerkannt zu werden. Nun hetzen sie die beiden, die eigentlich Freunde waren, aufeinander. Fast täglich kommt es zu einer körperlichen Auseinandersetzung. Zwei schwarze Jugendliche kämpfen gegeneinander und beleidigen sich. Manchmal hat Kevin ein blaues Auge und manchmal hat Nico das Veilchen. Wenn Nico gegen Kevin gewinnt, muss er wieder rennen. Die anderen wollen auch noch ihren Spaß. Von den Übergriffen erzählt Nico nichts mehr zu Hause. Seine Mutter, die man im Ort inzwischen »Negerhure« nennt, leidet immer mehr. Sie bekommt Depressionen. Nico kommt immer seltener nach Hause oder in die Schule. Wenn er mal in der Schule ist, versucht er, Aufmerksamkeit durch Stören des Unterrichts zu erregen. Er hofft, dass ihm vielleicht einer der Lehrer nach dem Unterricht nach Hause folgen und sehen würde, was er auf dem Weg durchmacht.
An Nicos 15. Geburtstag kommt ein neuer Schüler in die Schule. Ein Russe. Nico hat kurz die Hoffnung, einen neuen Verbündeten in ihm zu haben. Ein Ausländer, der zu ihm halten wird. Pustekuchen. Der russische Junge ist zwar kein Nazi, aber ein Rassist. Sergej hatte man wohl ebenfalls beigebracht, wie man hasst. Das Wort Heimat bekommt eine immer schwächer werdende Bedeutung für Nico. Er beginnt, sich mit Rasse und Ethnie zu befassen. Er findet heraus, dass selbst seine Großmutter rechts orientiert ist. Das bringt ihm sein erstes Bier, und es wird nicht das letzte sein. Alkohol wird zu seinem stetigen Begleiter.
In der Schule läuft es nun gar nicht mehr. Irgendwann kommt ein Mitarbeiter vom Jugendamt zu Nico und seiner Mutter nach Hause. Nico wird in die Psychiatrie eingewiesen. Ein Jahr lang versucht man, ihn dort zu erziehen. Dabei würde es reichen, wenn man aufhört, ihn zu hassen, abzulehnen für das, was er ist.
Mit 16 Jahren zieht er wieder bei seiner Mutter ein, findet eine Freundin, Jenny, eine Weiße. Ihr Bruder Martin hat mit der Beziehung ein Problem. Bevor er Jenny für ihr »Vergehen« schlägt, nennt er sie eine »Negerhure«, so wie Nicos Mutter schon beschimpft wurde. Nico greift ein. Er verliert einen Kampf gegen vier Jungen in seinem Alter. Einen weiteren Kampf führt er an diesem Tag in seinem Kinderzimmer. Der Kampf um seinen Lebenswillen beginnt. Nico liegt nachts im Bett und weint. Er weint leise, damit seine Mutter es nicht hört. Auf die Straße geht er nur noch betrunken. Dann tut es nicht so weh, wenn sie ihn erwischen.
Nicos Mutter wird nun vor die Wahl gestellt: Entweder ihr wird die Erziehungsberechtigung entzogen, oder Nico kommt ins Heim. Letzteres birgt, so seltsam das klingt, ein wenig Hoffnung. Raus aus der Scheiße. Nico wird in ein Kinderheim nach Sebnitz gebracht, dort leben bis zu 25 Jugendliche. Er freundet sich mit dem Betreuer Maik an, der Tourette hat. Die beiden verstehen sich auf Anhieb, beide sind für immer Außenseiter. Maik hilft ihm fortan bei Übergriffen, schenkt Nico eine Gitarre. Der Gitarre erzählt Nico von da an seine Pein, sie hört ihm immer zu, nimmt alles auf. Nico findet den Weg zu Heavy Metal. Songs von Korn, Slipknot und Nirvana geben ihm Halt.
Mit 17 geht er wieder zurück zu seiner Mutter. Abends ist er allein zu Hause und weint. Nico will nicht mehr leben. Sein Leben ist ungenießbar und der einzige Weg, das es besser wird, ist sein Tod, denkt er. Seine Mutter wäre dann wenigsten frei von der Bürde, Mutter eines schwarzen Kindes zu sein. Morgen soll es passieren.
Am nächsten Tag ist Nico in der Nähe eines Sportplatzes in Dresden unterwegs. Rechte kommen ihm entgegen. Nico will kämpfen, aber es sind zu viele. Zehn Jungen rennen ihm hinterher. Nico rennt um sein Leben. Trotz des Wunsches, endlich zu sterben, rennt er weiter. Versteckt sich zwei Stunden lang in einer Mülltonne. Sein Wille zu leben ist wieder da. Er will ihnen nicht das geben, was sie sich wünschen. Diejenigen, die hassen, sollen nicht gewinnen. Ein junger sportlicher Mann kommt auf die Mülltonne zu. Marc reicht ihm die Hand, um ihn aus der Tonne zu holen. Dann fragt er, warum Nico so schnell gelaufen war. In der hiesigen Footballmannschaft suche man nach jemandem, der so rennen kann wie er.
Nico geht mit Marc zum Training, dort bekommt er eine Ausrüstung und Schuhe geliehen. Nico ist lang und flink, seine Position ist die des Right Receivers, der, der immer nach vorne rennt und den langen Ball fängt, um damit zum Touchdown zu hetzen, bevor man ihn erwischt und niederwirft. Nico rennt wieder, aber nicht mehr um sein Leben. Zum ersten Mal fühlt er sich wertvoll. Aus dem Gejagten wird der Jäger nach dem Ball und ein Sieger.
Nico beginnt, nach vorne zu blicken, er sieht, dass die Welt nicht nur Freital ist. Er geht zu seinem Vater nach Berlin, Football gucken. Dort sieht ihn auch niemand an, als wäre er vom Mond. Das reicht für einen Umzug. In Berlin lebt Nico erst bei seinem Vater, einem Alkoholiker, dem gerne mal die Hand ausrutscht. Nico nimmt seine Sachen und geht in ein Obdachlosenheim, später bekommt er ein Zimmer in einer Wohnung in Lichtenberg. Gerade wartet er auf eine Wohnung. »Noch ein, zwei Monate«, verspricht er sich, dann hat er einen Job und eine Wohnung. Dann wird er zu den Berlin Bears gehen, einem Footballteam, das hoffentlich einen Right Receiver sucht. Einen, den man nicht so leicht tackeln kann.
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