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- Recycling in Guatemala
Die Wut der Müllsammler
In Guatemala wehren sich die Ärmsten gegen eine moderne Abfallwirtschaft
Müde Passagiere in rostigen Bussen wischen sich Schweiß von der Stirn. Alte Motoren brummen im Stau. Motorräder zwängen sich durch Lücken, die kaum breit genug für ihre Lenker sind. In der Mittagshitze der Zone 3 von Guatemala-Stadt trägt eine sanfte Brise den Geruch der nahegelegenen Mülldeponie herüber. Abgase mischen sich mit dem Gestank verrottender Lebensmittel und brennenden Gummis. Schwarzer Rauch steigt von den Resten verkohlter Autoreifen auf, die noch vor Kurzem lodernd brannten.
Ein Mann mit rußverschmiertem Gesicht verbietet die Durchfahrt zur Mülldeponie. Barrikaden aus gestapeltem Abfall blockieren die Straße. Eine Frau mit langem, grauem Zopf erklärt, warum die demonstrierenden Anwohner wütend sind: »Wenn wir nicht mehr auf der Müllhalde arbeiten können, dann bekommen unsere Kinder nicht genug zu essen. Die Behörden wollen uns den wertvollsten Teil des Abfalls wegnehmen. Aber davon leben viele alleinstehende Frauen, junge Leute, Großeltern. Wir alle brauchen den Müll.« Doña Maria ist vor einer Woche 65 Jahre alt geworden. Doch über ein Leben als Rentnerin hat sie noch nie nachgedacht. »Seit ich sieben Jahre alt bin, arbeite ich auf der Müllhalde. Wenn hier wirklich bald nur noch Restmüll geliefert wird, verliere ich mein Einkommen. Was sollen meine Enkel dann essen? Wir sind auf das Recycling angewiesen. Aber den Politikern ist das egal. Die haben ihre Einkommen und interessieren sich nicht für unser Schicksal.«
Das neue Recycling-Gesetz
Der guatemaltekische Staat will eine neue Recyclingvorschrift durchsetzen: Die Bevölkerung soll ihren Müll bereits zu Hause in drei Kategorien trennen – organisch, recycelbar und Restmüll. Dieses Vorhaben macht Doña Maria große Sorgen: »Ich verstehe nicht, warum die Behörden sich da einmischen. Sie haben sich doch sonst nie um uns gekümmert. Der Müll ist die Voraussetzung dafür, dass unsere Kinder essen können. Er ist die Quelle für das Einkommen der Armen. Mit dem, was wir auf der Müllhalde finden, sichern wir unser Überleben.«
Bereits 2021 hat das guatemaltekische Umweltministerium ein Dekret zur Mülltrennung erlassen. Doch erst in diesem Jahr soll die Vorschrift tatsächlich umgesetzt werden. Offenbar haben die Behörden nicht mit einem solch heftigen Widerstand gerechnet. Doña Maria jedenfalls meint, sie habe keine andere Wahl, als sich gegen das Gesetz aufzulehnen: »Vor fünf Monaten wurde mein Sohn ermordet. Auch er hat auf der Deponie gearbeitet. Ich weiß nicht, wer ihn erschossen hat. Aber ich weiß, dass ich mich jetzt um die Ernährung seiner fünf Kinder kümmern muss. So ist mein Leben als Großmutter.«
In Guatemala-Stadt und Umgebung leben rund zweieinhalb Millionen Menschen, die Tag für Tag mehr als 4000 Tonnen Müll produzieren. Normalerweise wird ein Großteil dieses Abfalls von 775 Lastwagen über eine abschüssige Straße zur Deponie der Zone 3 gebracht. Doch während des Streiks fährt dort kein einziger Mülltransporter. So können ein paar Jungs vier Plastikflaschen auf den Asphalt stellen, die als Fußballtore dienen. Am Rand des provisorischen Spielfelds stehen mehrere Väter mit einer Bierflasche in der Hand und schauen zu. Don Guayo sitzt auf einer ausgedienten Bank aus einem Buswrack. Er ist wütend. »Hier soll ein Monopol entstehen«, schimpft er. »Das Recyclinggeschäft soll von einer großen Firma übernommen werden, die bestimmt keine Leute ohne Schulabschluss einstellen wird. So kann das nicht funktionieren. Die Bürokraten haben doch keine Ahnung, wie viele Menschen auf der Müllhalde ihren Lebensunterhalt verdienen.«
Die größte Mülldeponie Guatemalas ist seit dem Jahr 1953 in Betrieb. Damals lag die Schlucht des Rio La Barranca weit abseits von den Wohngebieten der Hauptstadt. Heute sind zahlreiche eng bewohnte Siedlungen direkt neben dem Müll. Doch der Abfall wird noch immer fast ausschließlich von informellen Arbeitern sortiert – ohne Werkzeug, ohne Ausbildung und nahezu ohne Schutzmaßnahmen. Viele Frauen, Männer und Kinder durchstöbern den Müll mit bloßen Händen, auch Don Guayo. Er ist Vater von fünf Kindern. Zwar wäre er froh, wenn sie in einer sauberen Umwelt aufwachsen könnten, aber er schimpft: »Die Umweltschützer interessieren sich nicht dafür, ob unsere Familien genug zu essen haben. Wenn wir kein Geld verdienen, werden unsere Kinder krank und unterernährt.«
Don Guayo arbeitet seit seinem neunten Lebensjahr als Müllsammler. Das Recyceln betrachtet er als eine würdevolle Aufgabe: »Ich weiß, dass es viele Menschen gibt, die die Müllhalde für einen ekelhaften Ort halten. Aber in Wahrheit produziert doch jeder Mensch Müll. Wie kann es sein, dass du dich vor dem Abfall ekelst, den du selbst produziert hast? Wir finden im Müll alles, was wir zum Überleben brauchen. Hätten wir diese Möglichkeit nicht, könnten wir es uns nicht leisten, unsere Kinder zur Schule zu schicken. Gott sei Dank gibt es den Müll. Durch ihn haben unsere Familien Hoffnung auf eine bessere Zukunft.«
Zwei Tage später findet eine Demonstration vor dem Gebäude des Umweltministeriums statt, ein paar Hundert Meter vom Flughafen entfernt. »Wir wollen den Müll weiterhin so recyceln, wie wir es immer gemacht haben«, schimpft eine Frau. »All die Menschen, die heute demonstrieren, sind auf diese Arbeit angewiesen – auch die Lastwagenfahrer und ihre Helfer. Aber das will die Umweltministerin nicht verstehen.« Während Beamte des Ministeriums und Vertreter der Müllsammler drinnen um einen Konsens ringen, machen die Demonstrierenden draußen Lärm. Nach und nach treffen auch Dutzende Müllwagen ein. Angeblich wollen sich die Fahrer mit den Müllsammlern der Deponie solidarisch zeigen. Tatsächlich aber sind es die Besitzer der Müllfahrzeuge, die seit Jahrzehnten eine Modernisierung der Abfallentsorgung verhindern. Für sie ist die Müllabfuhr eine unerschöpfliche Einkommensquelle, die sie eifersüchtig verteidigen. Im Dialog mit den Behörden verweigern sie sogar die Herausgabe so grundlegender Informationen wie den Verlauf ihrer Routen. Sie haben keine feste Zeitplanung, sodass auch zu Stoßzeiten Hunderte Müllwagen das Verkehrschaos der Hauptstadt verschlimmern.
»Die Behörden wollen uns den wertvollsten Teil des Abfalls wegnehmen.«
Doña Maria Müllsammlerin
Mit der Zeit wird die Demonstration immer größer und lauter. Guatemaltekische und internationale Journalisten machen Fotos und Interviews. Der TV-Reporter Rainer Ruis berichtet live: »Jetzt drohen sie damit, den Abfall tagelang liegenzulassen. Heute gab es keine Müllabfuhr in den Wohngebieten. Viele Straßen sind verschmutzt.«
Hunderte gelbe Lastwagen versperren die Zufahrtsstraße zum Umweltministerium und zum Flughafen. Vor laufender Kamera bittet einer der Repräsentanten der Müllwagenfahrer die Bevölkerung Guatemalas um Verzeihung: »Nie zuvor haben wir Sie im Stich gelassen. Aber jetzt geht es um das Überleben vieler Menschen. Außerdem könnte der Preis für die Müllabfuhr steigen, wenn das Recyceln nicht mehr unter unserer Kontrolle ist.«
Der Reporter Rainer Ruis hat schon oft über die ineffiziente Abfallwirtschaft in Guatemala berichtet. Er weiß, dass das Thema viele Facetten und eine lange Vorgeschichte hat: »Regierungen sind gekommen und gegangen, ohne dass sie der Problematik die notwendige Aufmerksamkeit gewidmet haben. Es ist ja nicht so, dass die Familien, die im Abfall arbeiten und vom Müll leben, dies aus freien Stücken tun. Sie finden schlichtweg keine andere Einkommensmöglichkeit. Längst ist offensichtlich, dass es so nicht weitergehen kann. Die Müllentsorgung braucht dringend eine geordnete Lösung.«
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In Sachen Urbanisierung ist Guatemala eines der chaotischsten Länder Lateinamerikas. Unkontrollierte Landflucht, fehlende Infrastruktur und eine rasant wachsende Bevölkerung führen zu einem verworrenen Wachstum der Städte. »Bedauerlicherweise schneiden wir in vielen Studien gerade im Bereich der Umweltverschmutzung besonders schlecht ab«, sagt Rainer Ruis. »Die Mülldeponie der Zone 3 ist ein Ort, der das Land so sehr verschmutzt wie kein anderer.«
Ein Kompromiss
Während vor dem Umweltministerium immer mehr Müllwagen vorfahren, drängen sich einige Presseleute um die Sprecherin der Vereinigung »Recicladores Unidos«. Die junge Frau Marlyn Loarca setzt sich für die Rechte der Müllsammler ein: »Recyceln ist eine gute Sache. Wir machen das seit über fünfzig Jahren. Wir haben nichts gegen das Recyceln.«
Die engagierte Müllsammlerin bemüht sich seit Jahren, ihre Kolleginnen und Kollegen zum Beitritt in die Vereinigung zu bewegen, um gemeinsam bessere Arbeitsbedingungen zu erkämpfen. Ihrer Ansicht nach liegt die eigentliche Ursache des Konflikts um das neue Gesetz darin, dass ihre Leute nicht in den Entscheidungsprozess einbezogen wurden: »In diesem Land gibt es nicht genug Arbeit und das Gesundheitssystem ist miserabel. Wenn jemand krebskrank ist, dann bietet ihm die Regierung keine angemessene Behandlung an. Trotzdem will sie uns jetzt die Arbeit wegnehmen. Aber wir brauchen das Einkommen, um in der Apotheke Medizin kaufen zu können.«
Marlyn Loarca ist Tochter und Enkelin von Müllsammlern. Sie ist wütend, dass der Gesetzgeber einmal mehr die Realität des Landes ignoriert. »Zum Beispiel schreibt das Dekret vor, dass jeder Lastwagen nach dem Abladen des Mülls gereinigt werden muss. Wie soll das funktionieren? In der Umgebung der Deponie gibt es ja nicht einmal genug Wasser.«
Schließlich wird bei den Verhandlungen ein Kompromiss erreicht: Zumindest in der Hauptstadt soll der Müll vorerst nicht mehr in drei, sondern nur noch in zwei Kategorien getrennt werden – organische Abfälle und sonstiger Müll. Daraufhin beenden die Lastwagenfahrer und Müllsammler ihren Streik. Doch ein entscheidender Punkt bleibt ungelöst: Es gibt weiterhin keinen Plan, wie verhindert werden könnte, dass sich die beiden Müllsorten während des Transports in den Lastwagen wieder vermischen.
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