Ein Walzer rettet den Abend

Philharmonie: Antrittskonzert des neuen DSO-Chefdirigenten Robin Ticciati

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 5 Min.

Nun stehen den prägenden Berliner Klangkörpern außerhalb der großen Opernhäuser gleich drei Briten vor: einmal der alteingesessene Philharmoniker-Chef Simon Rattle, zum anderen die neuen Justin Doyle beim RIAS-Chor und Robin Ticciati beim Deutschen Symphonieorchester (DSO). Daneben mit Wladimir Jurowski, nunmehr Leiter des Rundfunksinfonieorchesters Berlin, ein Russe, und schon etwas länger im Dienst der Holländer Gijs Leenaars, Chefdirigent des Rundfunkchores Berlin. Niemand würde von Überfremdung des deutschen Betriebs reden. Bei farbigen Afrikanern gleicher Begabung wäre das gewiss nicht anders. Was zählt, ist das Können, auch, was den Einzelnen an Musikalität im Blute ist.

Robin Ticciati, ausgebildet als Geiger, Pianist und Schlagzeuger, ist mit seinen 34 Lenzen der Jüngste unter ihnen. Fortan wird er dem DSO als Chefdirigent und Künstlerischer Leiter vorstehen. Viel Rummel um ihn gab es jetzt. Der Junge ist schwarzlockig, schlank, überaus freundlich, immer lächelnd, obendrein erfolgsgewohnt und kommunikationsfest. Blätter drucken ganze Fotoserien von ihm. Er gibt Interviews. Artikel aus hauptstädtischen Blättern sparen nicht mit Vorschusslorbeeren.

Wenn das kein Medien-Typ ist? Bevor es nun amtlich losging, zeigte sich der Dirigent, der auch schon im Hause der Mailänder Scala, vor dem Gewandhaus Orchester Leipzig und der Sächsischen Staatskapelle Dresden sein Können zu vermelden wusste, als unerhört ausdauernd und musizierfreudig. Ein Konzert jagt dieser Tage das andere. Eine Art Festivalgeschehen findet unter seinen Fittichen statt. Vor wenigen Tagen leitete er den »Symphonic Mob«, Berlins größtes »Spontanorchester«, wie es heißt. Mehrere hundert Mitwirkende zeigten, wie mit Bizet, Grieg und Wagner massiert umzugehen möglich ist.

Überdimensionale Romantik hätte sich über die schließlich heftig applaudierenden Zuhörer ergossen, wird berichtet. »Wenn man das ›Kernrepertoire‹ neu erschließen will, tut man das am besten von verschiedenen Seiten«, sagt der in London geborene Ticchiati. »Die Musik von heute spielt für mich dabei eine unverzichtbare Rolle.« Das ist nicht so dahingesagt.

Ravel und Debussy neben dem Japaner Hosokawa, das geht bei ihm wie selbstverständlich zusammen. Der Komponist und Klarinettist Jörg Widmann, ohnehin herumgereicht im Betrieb, scheint zu seinen Vorzugskomponisten zu gehören. Mehrere Stücke von Widmann stehen auf der Programmagenda des Newcomers. Ticciati, der seit 2009 das Scottish Chambers Orchestra amtlich leitete und ab 2014 sich als Musikdirektor der viel gerühmten Glyndebourne Festival Opera (während der Nazizeit Auffangbecken für Exilanten) hervortat, ist auch Experimenten gegenüber ausgeschlossen.

Uraufführungen dieser Art von Paul Jebanasam und Moritz von Oswald kommen am Freitag mit dem DSO unter seiner Leitung zu »Berlin Atonal« im Kraftwerk Berlin. Daneben steht klassisch Modernes von Debussy, Luciano Berio, Charles Ives und György Ligeti. Barockmusik muss sich hinter schwerer Romantik und Neuer Musik nicht verstecken. Wie der weltläufige, von Collin Davis und Simon Rattle geförderte Robin Ticciati zentrale Werke der Wiener Schule um Schönberg und der Wiener Klassik - Kriterien der Wahrheit - dirigieren wird, bleibt abzuwarten. Die Musikerinnen und Musiker des DSO jedenfalls kennen diese Materie inwendig.

Die amtliche Eröffnung der DSO-Saison am Dienstag in der Philharmonie geriet zwiespältig. Barockes wechselte mit Gegenwartsmusik und Spätromantik ab. Zu Anfang kam die Orchester-Suite »Les éléments« des Franzosen und Bach-Zeitgenossen Jean-Féry Rebel. Eine Entdeckung. Mit wilden Tremoli beginnt der Tanzreigen. Lustig »Rossignols«, in dem die Soloflöte ähnlich zwitschert wie die eingespielten Vogelstimmen im Saal. In »Tambourin I und II« schlagen die Wogen derart über, dass die beiden Geigerinnen vorn plötzlich sich einhaken und zu tanzen beginnen. Das Stück schließt in der Art eines Corellischen Concerto grossos.

Enttäuschend die Symphonie Nr. 2 »Kenotaph« des Österreichers Thomas Larcher, geboren 1963. Kenotaph meint ein Leer- oder Scheingrab. Solche wie die Gräber der Ertrinkenden ohne Erde und Sarg, die niemand beweinen und hegen und pflegen kann. Larcher will die Mittelmeer-Tragödien in Musik fassen. Die Symphonie sei ein »Symbol für das, was inmitten Europas geschieht.« Ob das geht und wie das gehen soll, bleibt schleierhaft. Dies Symbol, gut gemeint, ist der viersätzigen, überwiegend brüllenden Musik mit unzähligem Schlagzeug lediglich angeklebt. Bombast regiert statt gedanklicher Tiefe.

Buchstäbliche Tiefe. Denn die armseligen Kreaturen versinken in der Tiefe, sterben in der Dunkelheit. Sie brüllen, bevor der Tod sie ereilt, um Hilfe und haben keine Instrumente zur Hand, sich zu retten. Und dann ersticken sie erbärmlich wie die ins Wasser geworfenen unschuldigen Tiere, die nicht überleben sollen, weil sie zu viele Fresser sind. Das muss furchtbar sein. Solche Furchtbarkeit hat die Larcher-Musik nicht. Sie besteht aus lauter faulen Kompromissen. Und zwar durchgängig. Was erscheint, bleibt äußerlich. Peitschender Alarmismus löst sich mit romantischem Melodienwerk ab.

Zu den Grundfarben gehören Dissonanz und Konsonanz. Vitalismus und Zugeständnis an die Ohren derer, die sich nicht vorstellen können, wie das ist, kurz vor dem Untergehen zu sein. Die Paarung schön und laut funktioniert nicht. Auch der Schluss, eine Art Trauer-Coda, ist, wenn nicht verlogen, so doch verfehlt. Sie wirkt wie ein Läppchen, hinten angenäht. Kein vernunftbegabtes, musikbewusstes Hörorgan nimmt diesen Schluss ab. Der ist nicht glaubwürdig. Die ganze Symphonie hätte eine Trauermusik sein müssen, eingepflockt darin sowohl Tröstliches wie Rebellisches. Der Missverstand und die Lieblosigkeit allerorten gegenüber den Bedrängten sprechen in dieser Symphonie keinen Takt lang.

Richard Strauss’ Dichtung »Also sprach Zarathustra«, zum Schluss glänzend musiziert, ist ein Meisterwerk hiergegen. Die heiteren Teile wirkten wie eine Offenbarung. Wenn auch die monumentalen Signale zu Beginn an übelste Verfälschungen während der Nazizeit erinnern, der Walzer in der Mitte, so klar wie unklar gehalten, rettete den Abend.

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