Mehr als blinder Protest

Ein Großteil der Wähler habe bewusst sein Kreuz bei der AfD gemacht, meint Felix Pithan

  • Felix Pithan
  • Lesedauer: 4 Min.

Über vierhunderttausend Wähler sind bei der vergangenen Bundestagswahl von der Linkspartei zur AfD gewandert. Wenn man nicht davon ausgeht, dass diese Menschen massenhaft ihre politische Einstellung vom einen zum anderen Ende des parteipolitischen Spektrums in der Bundesrepublik geändert haben, ist das ein massiver Widerspruch. Nicht nur in den Medien, sondern auch in der LINKEN selbst wird dieser Widerspruch oft aufgelöst, indem diese 400.000 als Protestwähler*innen bezeichnet werden, denen ein inhaltlich unbestimmter Protest gegen die bestehenden Verhältnisse zugeschrieben wird, den sie relativ beliebig links oder rechts äußern.

Doch diese Auflösung des widersprüchlichen Wahlverhaltens in einen inhaltslosen, aber konsistenten Akt des Protests verschleiert zugleich Risiken und Chancen. Sie verharmlost, dass ein Großteil der AfD-Wähler*innen gerade zu solchen geworden ist, weil die sie ihre rassistischen Einstellungen in einem größeren Maß bedient als jede andere Partei. Diese haben nicht aus hilflosem Protest, sondern im vollen Bewusstsein ihres Handelns eine Partei gewählt, die im Kern inzwischen deutlich völkisch-nationalistisch ist und einen starken faschistischen Flügel als wichtigen Teil ihrer selbst begreift.

Ihre frühere Stimme kann auch für die LINKE mehr gewesen sein als blinder Protest, nämlich Ausdruck eines Wunschs nach sozialer Gerechtigkeit, höheren Löhnen und Renten und Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums. Diese Einstellungen ergeben keineswegs ein logisches, zusammenhängendes Weltbild – es können nicht zugleich die Geflüchteten und die kapitalistischen Verhältnisse am eigenen Elend Schuld sein. Doch statt diesen Widerspruch scheinbar aufzulösen, indem wir beide Aspekte auf einen inhaltlich beliebigen Protest reduzieren, können wir sie mit Antonio Gramsci als Ausdruck eines widersprüchlichen Alltagsverstands begreifen und bearbeiten.

Gramsci beschreibt den Alltagsverstand als ein Konglomerat unterschiedlichster, sich durchaus widersprechender Deutungsmuster. Je nachdem, welche Deutungsmuster besonders angesprochen werden oder hervortreten, können daher dieselben Menschen auch ohne eine massive Veränderung ihres Alltagsverstands in unterschiedlichen historischen Situationen unterschiedlich handeln. Wo es in der Vergangenheit der LINKEN gelungen ist, den Wunsch nach sozialer Gerechtigkeit in Menschen anzusprechen, die zugleich rassistische Einstellungen hatten und haben, kann heute die AfD diese rassistischen Einstellungen erfolgreich aufgreifen. Der Wunsch nach sozialer Gerechtigkeit tritt dagegen zurück, aber er ist ebensowenig aus dem Alltagsverstand getilgt, wie es zuvor der Rassismus mit einer Stimmabgabe für die Linkspartei war. Didier Eribon beschreibt in »Rückkehr nach Reims« wie früher rassistische Einstellungen in der französischen Arbeiterklasse durch die Wahl der kommunistischen Partei zurückgestellt wurden, während sie heute entscheidend für die Wahl des Front National sind.

Die LINKE muss rassistische Einstellungen und Forderungen nach Abschottungspolitik konsequent entgegentreten – denn selbstverständlich ist es Aufgabe einer linken Partei, den Alltagsverstand im progressiven Sinn zu beeinflussen, also seine rassistischen Elemente zurückzudrängen. Mehr noch, so lange die Gesellschaft mit Debatten um Obergrenzen, »kriminelle Ausländer«, Terrorgefahren durch Geflüchtete und ähnlichem beschäftigt ist, dominiert die Ansprache der rassistischen Elemente im Alltagsverstand, was sich konkret bei vielen in der Wahlentscheidung für die AfD niederschlägt. Eine Linke, die in solche Forderungen einstiege, würde nicht nur ihre Grundsätze verraten, sondern zugleich ihr eigenes Grab schaufeln.

Es bleibt durchaus Hoffnung, durch einen Bezug auf soziale Kämpfe, wie sie sich aktuell im Pflegbereich zuspitzen, die Auseinandersetzungen um bezahlbare, leistbare Mieten oder armutsfeste und den Lebensstandard sichernde Renten die progressiven Bestandteile im Alltagsverstand wirksamer zu machen und perspektivisch auch Wähler*innen von der AfD zurückzugewinnen. Anders als die Rechtspartei mit ihrem Lieblingsthema wird die gesellschaftliche Linke dabei nicht auf massive Schützenhilfe der bürgerlichen Parteien oder eines großteils der Medien setzen können, sondern die sozialen Auseinandersetzungen in mühevoller Kleinarbeit vor Ort führen müssen.

Lesen Sie zu dieser Debatte auch:

>> »Wenn Flüchtlingspolitik soziale Gerechtigkeit außer Kraft setzt« von Oskar Lafontaine

>> »Links ist an der Seite der Schwachen« von Gregor Gysi

>> »Wider die Normalisierung!« von Christine Buchholz

>> »Praktische Solidarität organisieren« von Janine Wissler und Axel Gerntke

>> »Gegen die Haltung ‘Deutsche zuerst’« von Bernd Riexinger

>> »Rein ins Offene, raus Richtung Zukunft« von Alexander Fischer

>> »Links für ein städtisches progressives Milieu« von Jakob Migenda
>> »Lafontaine und Wagenknecht liegen falsch« von Juliane Nagel

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