Lafontaine hat das Recht auf Asyl nicht in Frage gestellt

Das Konzept der offenen Grenzen kommt den Gewinnern im Neoliberalismus zugute, sagt die saarländische LINKEN-Chefin Astrid Schramm

  • Astrid Schramm
  • Lesedauer: 8 Min.

Geht es wirklich um »nationalen Egoismus«, wenn Oskar Lafontaine auf die Not von Millionen Kriegsflüchtlinge hinweist, die in den Lagern des Vorderen Orients »vegetieren« und auf das Schicksal weiterer Millionen Menschen, die in ihrer Heimat unter Hunger und Krankheiten leiden? Doch wohl kaum. Spielt Lafontaine tatsächlich »die Not der einen Menschen gegen die der anderen aus«, wenn er daran erinnert, dass in Deutschland beispielsweise Bundestagsabgeordnete, Manager und Gehirnchirurgen – die Besser- und Bestverdienenden also - eine Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt eher weniger befürchten müssen, die Vielzahl der Niedriglöhner und prekär Beschäftigten aber schon? Dass unter steigenden Mieten infolge wachsender Nachfrage und eines seit Jahren dahinsiechenden sozialen Wohnungsbaus nicht die Eigenheim-Besitzer in den teuren Stadtteilen leiden, sondern diejenigen, die bereits jetzt jeden Euro zweimal umdrehen müssen? Nein! Er weist damit auf die ungerechte Verteilung der Einkommen, Vermögen und Chancen innerhalb unserer Gesellschaft hin.

Natürlich ging es den Ärmeren in unserem Land auch vor der Zunahme der Flüchtlingszahlen nicht besser. Der Hartz IV-Satz war nicht höher, Löhne und Renten auch nicht. Natürlich haben die Flüchtlinge niemandem hier etwas weggenommen. Gleichzeitig wurde aber für die Aufnahme der Flüchtlinge weder eine Reichenbesteuerung eingeführt, noch die Schuldenbremse außer Kraft gesetzt. Mit denselben finanziellen Mitteln müssen Bund, Länder und Gemeinden nun also zusätzliche Aufgaben – Erstausstattung, Wohnraum, Lehrer, Sprachkurse, etc – stemmen. Die Aufnahme von Fluchtsuchenden ist richtig und wichtig. Aber viele der Abgehängten und Benachteiligten fragen sich, wie derselbe Staat, der ihnen seit Jahren bessere Sozialleistungen und höhere Renten mit Verweis auf fehlendes Geld verweigert, nun auf einmal Geld für zusätzliche Aufgaben haben kann. Das gilt für zusätzliche Mittel zur Aufrüstung Deutschlands ebenso wie vor Jahren für die »Bankenrettung« und zum Teil nun eben auch für die (berechtigten!) Kosten für die Flüchtlingsaufnahme. Auch deshalb haben bei der Bundestagswahl so viele vor allem Arbeiter und Arbeitslose AfD gewählt. Diese Menschen darf DIE LINKE nicht einfach abschreiben oder pauschal als Nazis diffamieren. Dafür muss man aber auch ihre Sorgen verstehen und darauf eingehen. Dazu muss man ehrlich sagen, dass die Aufnahme so vieler Flüchtlinge natürlich Geld kostet und dass wir LINKE zur Finanzierung Millionen-Einkommen, -Vermögen und –Erbschaften gerecht besteuern wollen. Und dass wir die ungerechte Verteilung in diesem Land für alle ändern wollen – durch sozialen Wohnungsbau, einen höheren Mindestlohn, eine gestärkte gesetzliche Rente, bessere Sozialleistungen.

Vor allem aber hat Oskar Lafontaine ebenso wenig wie Sahra Wagenknecht das Recht auf Asyl in Frage gestellt oder eine Abkehr von der UN-Flüchtlingskonvention gefordert. Im Gegenteil, beide haben die von der Regierung Merkel betriebenen Asylrechts-Verschärfungen stets kritisiert, ebenso wie Abschiebungen in das Bürgerkriegsland Afghanistan und die Deals mit dem Diktator Erdogan, die von der Kanzlerin geschlossen wurden, um Flüchtlinge aus Europa fernzuhalten. Wenn Oskar Lafontaine nun darauf hinweist, dass es leider mehrere tausend Euro kostet, Schlepper zu bezahlen und daher vorrangig diejenigen zu uns kommen, die sich diese Summe leisten können, ist dies kein »Rassismus« und kein Gegeneinander-Ausspielen, sondern schlicht Realität, die gerade Linke nicht ignorieren dürfen. Das heißt nicht, dass ein junger Syrer, der vor dem schrecklichen Bürgerkrieg in seinem Land fliehen konnte und das entsprechende Geld hatte, nach Deutschland zu kommen, hier keine Hilfe erhalten sollte! Menschen in Not muss geholfen werden, unabhängig von Hautfarbe, Religion, Nationalität. Wer vor Krieg und Verfolgung flieht, der muss eine sichere und würdige Aufnahme finden. Ohne Wenn und Aber.

Es geht vielmehr um die darüber hinausgehende Forderung nach offenen Grenzen für alle, die auch im Wahlprogramm der LINKEN verankert war. Auch der Philosoph Julian Nida-Rümelin beispielsweise erklärt, »dass eine Politik der offenen Grenzen die Elendsten der Welt natürlich nicht in Europa mit einer Perspektive versehen wird, weil die Elendsten der Welt können nicht Tausende von US-Dollar aufbringen, um etwa von Ghana nach Lampedusa zu kommen.« Auch der marxistische Wirtschaftswissenschaftler Jörg Goldberg nennt offene Grenzen »ein neoliberales Projekt. Tatsächlich gibt es bereits ‚offene‘ Grenzen - für bestimmte Personengruppen. Der ‚Kampf um die besten Köpfe‘ zwischen den Industrieländern tobt schon lange - mit negativen Folgen für die Bevölkerung der Auswanderungsländer.« Steht wirklich der »soziale und humanistische Ansatz« der Partei DIE LINKE in Frage, wenn man auf diese Probleme hinweist?

Warum hat wohl die Weltgesundheitsorganisation schon vor einigen Jahren einen Verhaltenskodex für die Anwerbung von Fachkräften im Gesundheitssektor aus Entwicklungsländern aufgestellt? Weil rund eine Milliarde Menschen auf der Welt – vor allem in Afrika und Südasien –in ihrem ganzen Leben weder einen Arzt, noch einen Krankenpfleger, noch eine Hebamme zu Gesicht bekommen. »Ein Mangel mit oft tödlichen Folgen, vor allem für Säuglinge und Kleinkinder«, wie »Terre des Hommes« warnt. Und gleichzeitig herrscht auch im Norden, auch in Deutschland, zunehmend Mangel an Ärzten, an Kranken- und Altenpflegern. »Diese Situation setzt eine weltweite Migrationsdynamik in Gang, die in vielen Ländern politisch gewollt ist und durch bilaterale Anwerbeabkommen – auch von deutscher Seite – noch an Kraft gewinnt. Dabei ist im Blick zu behalten, dass diese Dynamik große Risiken für die ohnehin schon oft sehr schwachen Gesundheitssysteme im globalen Süden birgt und bestehende Ungleichheiten verstärkt«, so »Terre des Hommes«. Der Gesundheitssektor ist ein Beispiel, das sich natürlich auch auf andere Bereiche übertragen lässt. Wenn der reiche Norden billigere Arbeitskräfte aus dem Süden anwirbt, die dann in ihrer Heimat fehlen, ist das in dreierlei Hinsicht ungerecht: Für die Arbeits-Migranten, die auch lieber in ihrer Heimat, bei ihren Familien und Freunden bleiben würden, und die als Billig-Kräfte missbraucht und ausgebeutet werden. Für die zurückbleibenden Menschen in den Herkunftsländern, denen immer mehr dringend benötigte Fachkräfte fehlen. Und für die Arbeitslosen und Beschäftigten in den reichen Ländern, die eine billigere Konkurrenz bekommen. Nur die ohnehin schon Reichen und Mächtigen und Großkonzerne profitieren wieder einmal. Gerade Linke müssen diese Ausbeutungs-Mechanismen benennen. Ansonsten ist der soziale und humanistische Ansatz unserer Partei tatsächlich in Gefahr.

In einer perfekten Welt gibt es keine Grenzen mehr, die Nationalstaaten verschwinden und wir alle sind gleichberechtigte Weltbürger. In einer perfekten Welt gibt es aber auch keine Ungleichheit, keine Armut, keinen Hunger und keine Ausbeutung mehr. Solange dieser perfekte Zustand nicht erreicht ist, nutzen völlig offene Grenzen vor allem denjenigen, die billige Arbeitskräfte suchen. Nicht umsonst ist es etwa der FDP-Politiker Christian Lindner, der einerseits Kriegsflüchtlinge schnellstmöglich nach Hause schicken will, andererseits aber auf ein Einwanderungsgesetz drängt. »Dauerhafte Einwanderer wollen wir uns wie jedes andere Einwanderungsland selbst aussuchen. Deutschland ist auf die Einwanderung von qualifizierten und fleißigen Menschen angewiesen, wenn wir unseren Wohlstand auch zukünftig erhalten wollen«, heißt es im FDP-Programm.

Eigentlich sind sich alle LINKE weitgehend einig: Das Recht auf Asyl bleibt unangetastet, die UN-Flüchtlingskonvention ebenfalls. Mehr Geld für Entwicklungshilfe, statt für Aufrüstung. Mehr Geld für die Flüchtlingslager im Nahen Osten. Bekämpfung der Flucht-Ursachen durch ein Verbot von Waffenexporten in Krisenländer, ein Ende der Interventionskriege und ein Stopp sogenannter »Freihandelsverträge«, die die Wirtschaft Afrikas niederkonkurrieren. Über die Frage nach allgemein offenen Grenzen gibt es unterschiedliche Auffassungen. Erschreckend ist, dass die Attacken einiger »Parteifreunde« an Oskar Lafontaine nun deutlich heftiger ausfallen, als ihre Kritik an den Asylrechtsverschärfungen Angela Merkels. Nicht hinnehmbar ist es, wenn die Positionen von Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht gar als »AfD light« oder Annäherung an AfD-Positionen diskreditiert werden. Bekanntlich ist der AfD das Schicksal der notleidenden Nicht-Deutschen egal. Die AfD befürwortet Kriegseinsätze der Bundeswehr – wenn es der deutschen Wirtschaft nutzt – und Aufrüstung. Führende AfD-Politiker sind auch durch menschenverachtende Äußerungen aufgefallen (Von Storch wollte an den Grenzen auf Flüchtlinge – und Flüchtlingskinder – schießen lassen. Gauland will die Integrationsbeauftragte in Anatolien »entsorgen«, im Saarland hat ein AfD-Vorstandsmitglied dazu aufgerufen, Flüchtlingsboote »samt Inhalt« zu versenken,…), die von Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine stets kritisiert wurden. LINKE sollten nicht mit demselben Dreck auf »Genossinnen und Genossen« werfen, wie Politiker der mit uns konkurrierenden Parteien oder uns ganz und gar nicht wohlgesonnene Medien.

Lesen Sie zu dieser Debatte auch:

>> Wenn Flüchtlingspolitik soziale Gerechtigkeit außer Kraft setzt von Oskar Lafontaine

>> Links ist an der Seite der Schwachen von Gregor Gysi

>> Wider die Normalisierung! von Christine Buchholz

>> Praktische Solidarität organisieren von Janine Wissler und Axel Gerntke

>> Gegen die Haltung ‘Deutsche zuerst’ von Bernd Riexinger

>> Rein ins Offene, raus Richtung Zukunft von Alexander Fischer

>> Links für ein städtisches progressives Milieu von Jakob Migenda

>> »Lafontaine und Wagenknecht liegen falsch« von Juliane Nagel

>> »Mehr als blinder Protest« von Felix Pithan

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!