Wenn die bekannte Welt »verdampft«

Was steckt hinter dem Aufstieg der AfD? Allein mit sozioökonomischem »Abgehängtsein« ist das nicht zu erklären

  • Horst Kahrs
  • Lesedauer: 9 Min.

Im Deutschen Bundestag sind erstmals sieben Parteien vertreten. Neben einer großen und einer mittleren Partei finden sich fünf »kleine« Parteien. Sichtbarkeit und parteipolitische Unterscheidbarkeit werden mit Blick auf die mediale Öffentlichkeit wie mit Blick auf die eigenen Anhänger zu einem weitaus größeren Problem als bisher. Das gilt auch für die Koalitionsbildung mit drei oder gar vier Parteien. Parteipolitische Identitätspolitik, das Agieren zum »Wohl der Partei« dürfte erheblich an Gewicht gewinnen. Der mit jeder Parlamentswahl verbundene Auftrag an die im Parlament vertretenen Parteien, mit dem Wahlergebnis am Ende eine Regierung zu bilden, könnte unter diesen Umständen weiter an handlungsleitender Bedeutung verlieren.

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Der Autor

Horst Kahrs, Jahrgang 1956, ist Sozialwissenschaftler beim Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Er arbeitete als Bildungsreferent in der Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg e.V., hatte Lehraufträge zur Geschichte des Sozialstaates an der Universität Oldenburg inne und hat Sozialberatung unter anderem bei der IG Metall Sachsen geleistet. Später wurde er wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der PDS-Fraktion im Bundestag und war bis 2011 Leiter des Bereichs Strategie und Grundsatzfragen beim Vorstand der Linkspartei. Seine nebenstehenden Thesen sind ein Auszug aus seinem Wahlnachtbericht, in dem Kahrs schon seit Jahren erste Analysen zu den Ergebnissen diverser Wahlen vorlegt.
 

Das Wahlergebnis unterstreicht die in unseren Analysen der Bundestagswahl 2013 bereits herausgestellte Tendenz zur abnehmenden Bedeutung der Parteien, die seitens der Bevölkerung links von der Union verortet werden: SPD, Grüne und Linkspartei. Die nur zufällig 2013 nochmals zustande gekommene rechnerische parlamentarische Mehrheit der rot-rot-grünen Parteien wurde ebenso wenig genutzt wie die gemeinsame Oppositionszeit unter der CDU/CSU/FDP-Regierung 2009 bis 2013, um eine gesellschaftspolitische Alternative zum Kurs der Merkel-Regierungen aufzubauen. Dafür braucht es mehr als ein paar Gesprächsrunden und den Abgleich von Schnittmengen in den Wahlprogrammen. Ohne ein paar grundlegende gemeinsame Vorstellungen, wohin und zwischen welchen gesellschaftspolitischen Leitplanken die bundesdeutsche Gesellschaft in einer komplexen Weltlage gesteuert werden soll sowie warum und wie die Zukunft besser werden kann als die Gegenwart und Vergangenheit, wird es nicht gehen. Ohne dem wird nicht zuletzt den zu erwartenden Gegenmobilisierungen nicht erfolgreich widerstanden werden können. Wer progressive Politik in diesem Land will, wird auf einen Neuanfang in den Parteien setzen müssen. Eine linke Opposition aus Linkspartei und SPD wäre wohl eine letzte Chance, alternative Gestaltungsperspektiven auf dem Boden des bestehenden Parteiensystems zu entwickeln: Wohin sollten sich das Land und seine Rolle in der Welt entwickeln?

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Mit dem Thema »soziale Gerechtigkeit«, wie wir es aus der Vergangenheit kannten, ließ sich die Wahl nicht gewinnen. In der Interpretation des Schulz-Hypes kam eine naheliegende Variante nicht vor: Wenn Martin Schulz in der Bevölkerung - und nicht nur in linken oder sozialdemokratischen Parteikreisen - für irgendetwas bekannt war, dann für sein Eintreten für europäische Zusammenarbeit, gute Nachbarschaft und demokratische Weiterentwickelung der EU. Thomas Falkner (Referent der Linksfraktion im Landtag Brandenburg, d. Red.) schreibt: »Nach den Brexit- und der Trump-Erfahrung sowie angesichts der Sorgen um die Wahlergebnisse in den Niederlanden und Frankreich suchten damals viele Wählerinnen und Wähler links der Mitte nach einer starken Figur, die für Deutschland diesen Trends würde Paroli bieten können. Sie erwogen zeitweise sogar, deswegen Angela Merkel zu wählen. Dann kam Schulz - und es schien die Erlösung zu sein.« Was, wenn die Stimmungswelle gerade durch Erwartungen an die deutsche europäische Politik in Zeiten von Trump, Putin, Erdogan, Le Pen getragen wurde und was, wenn diese Welle in sich zusammenbrach, als Schulz diese Stärke im Wahlkampf sorgsam versteckte? Was, wenn der Schulz-Hype der schnell enttäuschten Hoffnung wich, dass da einer käme mit einer Idee, wie den gewaltigen Veränderungen, die die Bürger und Bürgerinnen um sich herum wahrnehmen, europäisch und nicht im Rückzug auf die alten Nationalstaaten zu begegnen wäre und Kontrolle (wieder-)gewonnen werden könnte? Jedenfalls spielten Probleme, die die Bürgerinnen und Bürger bewegen, die Zukunft Europas, die Rolle Deutschlands gegenüber den globalen Problemen, die Bekämpfung von Fluchtursachen jenseits moralisch zwielichtiger Abkommen mit anderen Staaten eine sehr untergeordnete Rolle; das gleiche Bild ergibt sich, wenn man nach der weiteren Dynamik und Gestaltung der digitalen Arbeitswelt fragt. Dabei geht es jeweils weniger um fertige Konzepte, sondern um politische und moralische, wertepolitische Leitplanken, innerhalb derer die kommenden Veränderungen gehalten werden sollen; sowie um Ordnungsvorstellungen, die den Unterschied machen, Vorstellungen, wie das von 71 Prozent der Befragten am Wahltag abgegebene Votum für ein »weltoffenes Land« umgesetzt werden kann und soll. Also um Fragen wie man solchen Orientierungen Gestaltungskraft verschafft oder wie man überhaupt politische, demokratische Kontrolle zurückgewinnt? Darüber war wenig Neues zu erfahren.

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Die »Flüchtlingskrise« 2015/2016 hat am Umgang mit Flüchtlingen in der bundesdeutschen Gesellschaft eine aufgestaute gesellschaftspolitische Richtungsdebatte aufbrechen lassen, die eine Vielzahl von Fragen umfasst und die traditionellen Parteigrenzen durchbricht. Sie lassen sich auch nicht entlang der Grenzziehungen von sozioökonomischen Fragen und Problemen einerseits und kulturellen Unterschieden andererseits bearbeiten. Es geht im umfassenden Sinne um »Unsere Zukunft in der Welt« und das Unbehagen, welches der Status quo auslöst. Alle Umfragen, die nach den Zukunftserwartungen fragen, ergeben ein ähnliches Bild: Mehrheitlich ist erwünscht, dass es so weiter geht wie bisher, aber es wird erwartet, dass es so nicht kommen bzw. gehen wird.

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Wo etablierte Parteien dieser politischen Verunsicherung nicht gerecht werden, profitieren derzeit politische Unternehmer-Persönlichkeiten unterschiedlichster politischer Couleur, für die Parteien allenfalls noch Plattformen der eigenen Selbstinszenierung sind. Der vergleichsweise bescheidene Erfolg von Christian Lindner spricht dafür, dass das parteipolitische System in Deutschland (noch) stabiler ist als in vielen europäischen Nachbarländern. Aber neue Tendenzen, die politischen Geschicke Persönlichkeiten anzuvertrauen, sind jenseits der Lindner-FDP auch in Deutschland sichtbar, etwa in den Wahlerfolgen von Winfried Kretschmann und Malu Dreyer. Insbesondere Kretschmann ist eine politische Figur, die nicht im Sinne der üblichen Personalisierung der Partei ein Gesicht gibt.

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Der Erfolg der AfD resultiert ebenfalls aus der unbeantworteten Verunsicherung über die Gestaltungskraft von demokratischer Politik und den Entfremdungserfahrungen zwischen der Welt der Politik und der eigenen Alltagswelt. Mehr noch: Mit dem Einzug der AfD in den Bundestag ziehen nicht nur, aber eben auch offen völkisch-nationalistisches Gedankengut und seine Protagonisten ins Parlament. Jeder Bürger, jede Bürgerin konnte wissen, dass führende Personen der AfD Positionen vertreten, die einige von allen anderen Parteien getragenen Grundregeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens außer Kraft setzen wollen. Wer AfD wählte, konnte wissen, was er oder sie tat. Es führt nun kein Weg mehr an der Tatsache vorbei, dass es eine Minderheit in der Bevölkerung gibt, die einen grundlegenden politischen Kurswechsel in Richtung Nationalismus usw. unterstützt. Diese Deutsch-Nationalen und Wertkonservativen hat es zwar immer in der Gesellschaft gegeben, nicht aber als eigenständige politische Formation mit einer eigenen Dynamik.

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Die AfD selbst hat seit ihrer Gründung mehrfach Schritte der Selbstradikalisierung vollzogen. Eine Konstante der bundesdeutschen Vergangenheitsdeutung ist endgültig dementiert. Es galt immer als zentrale Lehre aus dem Untergang der Weimarer Republik, dass ökonomische Krisen und hohe Arbeitslosigkeit die Demokratie gefährden und radikale Parteien nach oben spülen würden. Die AfD gewinnt entgegen diesen Erwartungen in Zeiten wirtschaftlichen Wachstums, abnehmender Arbeitslosigkeit und weit verbreiteter Zufriedenheit mit der persönlichen und allgemeinen wirtschaftlichen Lage.

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Der Einzug der AfD in den Bundestag ist keine Überraschung. Er kündigte sich über etliche Landtagswahlen hinweg an, hat auch eher zufällig 2013 noch nicht stattgefunden. Natürlich ist die Frage, ob die Geschichte anders verlaufen wäre, wenn es statt einer Fünf- nur eine Zweiprozenthürde gäbe und die AfD im »Status Lucke« ins Parlament eingezogen wäre, rein spekulativ. Doch zeigt sich, dass die Sperrklausel nicht vor autoritären und antidemokratischen Dynamiken schützt, sie im Gegenteil womöglich gar befördert. Gescheitert sind im Wahlkampf auch all jene Strategien, die darauf zielten, dem Thema Flüchtlinge und Integration durch andere (soziale) Themen wie Mieten und Wohnen, Rente die wahlentscheidende Bedeutung zu nehmen.

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Der Erfolg der AfD lässt sich nur sehr begrenzt sozioökonomisch mit »Verlierern« und »Abgehängten« erklären. Er offenbart vielmehr das Dilemma des kulturellen und sozialen Konservatismus, der keineswegs auf die Union begrenzt ist. Die Dynamik der (transnationalen) kapitalistisch getriebenen Veränderung - manche nennen es »die Märkte«, Karl Marx sprach davon, alles Bestehende würde vom Heißhunger nach Profit »verdampft« - treibt Veränderungen in der Arbeitswelt, in der Lebenswelt, in den sozialstaatlichen Institutionen und fordert entsprechende Anpassungsprozesse.

Politisch erscheinen sie zuweilen als Rückschritt hinter einen historisch errungenen Kompromiss zwischen Arbeit und Kapital, also hinter bestimmte sozialstaatliche Standards, Auffassungen von Solidarität, Leistungsgerechtigkeit usw.; ein andermal als kulturelle Modernisierung im Sinne der Auflösung traditionaler, patriarchaler Bindungen an Religion, Rollenverständnisse, Familienbilder.

Die SPD hat sich unter Gerhard Schröder einem solchen - parteipolitisch fehlgeschlagenen - Anpassungsprozess der sozialstaatlichen Institutionen unterzogen. Die Union hörte, zumindest aus diesem Blickwinkel, unter Merkel zwecks Machterhalt auf, konservativ zu sein und begann den zweiten Anpassungsprozess auf der kulturellen und gesellschaftspolitischen Ebene (Abschaffung des obligatorischen »Dienstes am Vaterland«, des wertkonservativ-patriarchalen Frauen- und Familienbildes, Ausstieg aus der Atomkraft u.a.m.). Vormals in dieser Partei gebundene Deutsch-Nationale und Wertkonservative, politisch Erfahrene, fühlten sich politisch entheimatet und bildeten zusammen mit ebenso ins politische Abseits gestellten Ordoliberalen eine neue Partei.

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Entscheidend für den Erfolg der neuen Partei war und ist, dass durch die beiden beschriebenen Anpassungsprozesse im zurückliegenden guten Jahrzehnt Lebensmodelle, Werthaltungen und Mentalitäten, die zuvor zur Normalität der Mehrheits-Mitte zählten und die Basis institutioneller Arrangements und Normen gebildet hatten, in eine Minderheiten-Position gerieten. Beide Anpassungsprozesse behaupteten sich als »alternativlos«, was den Eindruck mangelnden Gestaltungswillens der politischen Parteien vertiefte. Viele fühlten sich mit ihren Vorstellungen vom guten Leben nicht nur vom Lauf der Dinge entwertet, sondern auch von ihren politischen Vertretern verraten. Rollenbilder anderer Schichten (Stichwort »Vereinbarkeit«) wurden zu den neuen Leitbildern erklärt. Mit den zuvor historisch gewachsenen Arrangements verbunden sind individuelle und milieugebundene Lebensführungsmodelle und Mentalitäten, die sich nicht geschwind an veränderte Bedingungen anpassen (wollen und/oder mangels Ressourcen können). Statt von »Verlierern« der Modernisierung oder »Abgehängten« müsste man eher von »neuen Minderheiten« sprechen. In die Minderheit gerät man auch durch relative Einbußen an sozialem Status und politischer Bedeutung bei politischen Themensetzung und Weichenstellungen.

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Beide Dynamiken zusammen - die Verunsicherung, die von einer veränderten Lage in der Welt, der globalen Probleme wie den veränderten Arbeitswelten ausgeht - und die politische Wut, die von soziokulturellen Entwertungsprozessen und der Beharrlichkeit von Mentalitäten bestimmt ist, werden von der AfD in einem übersichtlichen Gesellschaftsbild zusammengebunden, mit und nach dem die Veränderungen zu bewältigen sind: Zusammengehörigkeit in Volk und Nation, Deutsche und Einheimische zuerst. Eine Alternative, die für die von der AfD motivierten Schichten anziehend wäre, ist nicht in Sicht; hierdurch kann sich die Anziehungskraft dieser Partei weiter erhöhen. Im Angebot ist lediglich das Primat der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, des Wachstums und der Arbeitsplätze, als Handlungs- und Gestaltungsprinzip.

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