Blauhelme verlassen Haiti

Korruption, Sexskandale und Cholera: In dem Karibikstaat waren die UN-Truppen höchst umstritten

  • Hans-Ulrich Dillmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Die blaue Fahne der Vereinten Nationen ist eingeholt, am Sonntag zog die letzte Einheit der Blauhelme aus Haiti ab. 13 Jahre nach der Entsendung von UN-Blauhelmtruppen in den Karibikstaat.

Die Mission stand von Anfang an unter keinen guten Vorzeichen. Wenige Tage nachdem die ersten Soldaten der UN-Blauhelmtruppen Mission des Nations Unies pour la stabilisation en Haïti (MINUSTAH, Vereinte Nationen für die Stabilisierung in Haiti) in der Hauptstadt Port-au-Prince gelandet waren, tauchten die ersten Parolen auf: »MINUSTAH raus« sprühten Unbekannte in den Vierteln Cité Soleil und Delmas. 13 Jahre danach sind die Blauhelm tragenden Soldaten im Auftrag der Vereinten Nationen unbeliebter denn je und die Parolen an den Wänden in den armen und Elendsvierteln immer wieder frisch gesprüht.

Korruption und Sexskandale, geschwängerte und verlassene jugendliche Gespielinnen der Friedenssoldaten, die Liste der Vorwürfe gen MINUSTAH-Mitglieder ist lang, ebenso die Zahl von mindestens 10 000 Toten, die an der von UN-Soldaten eingeschleppten Cholera gestorben sind.

»In Bezug auf die Sicherheit ist die Präsenz von MINUSTAH ein Fluch für das Land. Es hilft nicht nur, sondern schafft mehr Unsicherheit«, urteilt der Soziologe Ilionor Louis. In AlterRadio beklagte der Professor an der Staatlichen Universität Haiti in Port-au-Prince, dass die zeitweise rund 9000 Soldaten aus 18 Nationen und 3500 Polizisten aus 40 Ländern nicht zur Stabilität des Landes beigetragen haben. Weder die strukturelle noch wirtschaftliche Unsicherheit sei bewältigt worden, findet Louis. Im Armenhaus Lateinamerikas mit seinen fast elf Millionen Einwohnern leben vier von fünf Menschen am Rande oder unterhalb der Armutsgrenze.

2004 stand Haiti am Rande eines Bürgerkrieges. Besser situierte Bürger und Unternehmer bekämpften den ehemaligen Armenpriester Jean-Bertrand Aristide, der ihnen mit seiner angeblich linken Politik ein Dorn im Auge war. Auf den Straßen demonstrierten die Mitglieder der einst gegründeten Basisbewegung Fanmi Lavalas, der »Erdrutsch«-Familie. Kritiker wurden von militanten Aristide-Anhängern, Schimären genannt, verfolgt. Deren Brutalität war berüchtigt. Als schließlich bewaffnete Banden von ehemaligen Soldaten und Polizisten sich anschickten, die Macht zu übernehmen, flogen die USA GIs ein, die noch im selben Jahr von Blauhelmtruppen unter brasilianischer Führung abgelöst wurden. Aristide wurde unter einem Vorwand in ein Flugzeug gelockt und nach Südafrika ins Exil geschickt.

Die Soldaten unter dem Mandat der Mission der Vereinten Nationen zur Stabilisierung Haitis machten sich bald unbeliebt, auch beim kleinen Kreis der Mittelständler. Mieten stiegen, Supermärkte passten sich ans Gehaltniveau der aus New York entlohnten Mitarbeiter an.

Haitianische Menschenrechtsaktivisten beklagten Übergriffe von UN-Soldaten bei Kontrollen, Mitglieder von bewaffneten Banden in Elendsvierteln der Hauptstadt wurden regelrecht niedergekämpft, durchaus mit Billigung Washingtons, des UN-Hauptquartiers und des brasilianischen Vorortkommandos. Ungeklärt ist bis heute der Tod des ersten militärischen MINUSTAH-Kommandeurs Urano Teixeira da Matta Bacellar, der 2006 erschossen in einem Hotelzimmer aufgefunden wurde.

Die Ausbreitung der Cholera 2010, an der fast eine Viertel Million Menschen erkrankten und über 10 000 Menschen starben, geht auf infizierte UN-Mitglieder aus Nepal zurück, deren Fäkalien einfach im Fluss entsorgt worden waren. Erst im Jahre 2016 gestanden die Vereinten Nationen ihre Verantwortung für die in Haiti ausberochene Choleraepidemie ein. Aber bis heute weigern sich die UN, das Land und auch die Opfer und ihre Familien zu entschädigen.

Am Donnerstag auf der Sitzung des UN-Sicherheitsrates zog die Leiterin von MINUSTAH in Port-au-Prince, Sandra Honoré, allerdings eine positive Bilanz, das Rechtssystem sei gestärkt, die haitianische Polizei gerüstet. »Das haitianische Volk genießt ein beträchtliches Maß an Sicherheit und Stabilität; politische Gewalt hat sich verringert«, feierte Honoré in ihrem Abschlussbericht die 13-jährige UN-Mission. In der kommenden Woche soll ein stark reduziertes UN-Kommando die bisherige Arbeit fortführen.

Hart geht allerdings der Rechtsanwalt Mario Joseph mit den UN-Blauhelmen ins Gericht. Joseph ist wohl der bekannteste Menschenrechtsanwalt des Landes und Mitglied des Bureaus des Avocats Internationaux in Port-au-Prince. Er vertritt die Choleraopfer. Mit der Umsetzung der Sicherheit und Menschenrechte könnten die Vereinten Nationen dadurch beginnen, dass sie das »Gesetz respektieren« und »Land und Choleraopfer entschädigen«.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.