»Ein Unding, ja einfach nur Mumpitz«

Hamburger Mieterverein kritisiert das Vorhaben von Rot-Grün, Wohnraum an den Hauptverkehrsstraßen zu schaffen

  • Volker Stahl, Hamburg
  • Lesedauer: 3 Min.

Es kommt nicht oft vor, dass ein schlichter Bürgerschaftsantrag zur Stadtentwicklung einen so starken Wirbel verursacht wie die Drucksache 21/10507. Darin fordern Abgeordnete der SPD und der Grünen: »Potenziale entlang der Magistralen identifizieren und planerisch vorbereiten.« Auf den ersten Blick ein vernünftiger, an den Senat gerichteter Vorschlag zum Wohnungsbau in der wachsenden Stadt. Dem haben - bis auf die AfD - alle Fraktionen in der Hamburgischen Bürgerschaft zugestimmt. Doch nun wird die Allparteien-Koalition von der harschen Kritik des Mietervereins überrascht.

Kernpunkt des federführend vom grünen Stadtentwicklungsexperten Olaf Duge eingebrachten Antrags ist das Vorantreiben des Wohnungsbaus an den vier- bis sechsspurigen Hauptstraßen. Auf der Basis von Erhebungen im Bezirk Altona könnten allein dort entlang der Magistralen 20 000 Wohnungen entstehen. »Hamburg hat ein Dutzend solcher Magistralen«, sagte Duge in der Bürgerschaft. »Die Stadt muss die Potenziale identifizieren und die Eigentümer zur Modernisierung oder zum Verkauf drängen.« Er schlug vor, an den Magistralen höher zu bauen und dort große Parkplätze mit Wohnungen zu überbauen. Duge erhofft sich durch diese Maßnahmen die Schaffung von neuen 100 000 Wohnungen im kommenden Jahrzehnt.

Die wünscht sich der Mieterverein auch - aber an anderer Stelle: »Ausgerechnet Parteien, die Schritttempo, Einbahnstraßen und Tempo-30-Zonen fordern, setzen sich jetzt dafür ein, dass Menschen dort wohnen sollen, wo sie stark mit Dreck, Lärm und Emissionen belastet werden«, kritisiert Siegmund Chychla, Vorsitzender des Mietervereins zu Hamburg, scharf. »Erst haben sie die Autos aus ihrem Quartier verbannt, sodass die Verkehrsbelastung an den Hauptstraßen erhöht wurde. Nun sagen die gleichen Politiker: Bei uns ist es schön, unser Quartier verträgt keinen Zuzug mehr und die anderen sollen an den Hauptstraßen wohnen.« Das sei nicht nur ein Widerspruch, sondern schlicht »ein Unding, ja einfach nur Mumpitz«, wettert der Mietervereinschef: »Es soll bitteschön einer dieser Politiker vortreten und sagen, dass er an einer Magistrale leben wolle.«

Der Vorschlag, dort Wohnungen zu bauen, sei das Ergebnis der »Ratlosigkeit der Politik«, so Chychla weiter: »Man hat es versäumt - wie beim Planen von Gewerbegebieten seit hundert Jahren geschehen - auch Wohnungsbauland-Bevorratung zu betreiben.« Der aktuelle Vorstoß der Allparteien-Koalition sei deshalb nicht mehr als ein aus Verzweiflung geborener »Schnellschuss«. Wohnungsbau soll jetzt dort stattfinden, wo keiner etwas dagegen habe und mit keinem Gegenwind zu rechnen sei.

Chychla ist zwar dafür, dass die Magistralen »urbanisiert« werden, aber anders. Wie - das erläutert er anhand eines Beispiels: »Vorbildlich ist die Bebauung am viel befahrenen Steindamm in St. Georg, wo an der Ecke zur Stiftstraße ein Büroriegel und nach hinten hinaus phantastische, nach Süden ausgerichtete Wohnungen geschaffen wurden.« Sinnvoll sei es auch, in Altona an der Osdorfer und Rissener Landstraße Streifen von hundert Metern zu schaffen und dort Grundstücke zusammenzulegen. Im ersten Riegel könnten sich Gewerbe und Dienstleistungsbetriebe ansiedeln, im Areal dahinter durch Veränderung der Bauplanung Geschosswohnungsbau entstehen.

Reichlich neuer Wohnraum könnte auch dadurch entstehen, dass gewerblich genutzte Objekte wieder dem Wohnen zugeführt werden, macht Chychla einen weiteren Vorschlag zur Beseitigung der Wohnungsnot. »Viele Werbeagenturen, Ärzte, Steuerberater und Rechtsanwälte haben ihre Praxen und Büros in guten Lagen in normalen Wohnungen. Berlin hat gezeigt, wie man gewerblich genutzte Wohnungen wieder ihrem eigentlichen Zweck zuführt.« Die Schritte: Erst müsste die Gewerbenutzung von den Eigentümern angezeigt werden. Wer nicht mitmacht, handelt ordnungswidrig. Anschließend legt die Stadt Übergangsfristen für die Beendigung der Zweckentfremdung fest.

Nach Schätzung des Mietervereins könnten so bis zu 30 000 Objekte dem Wohnungsmarkt zugeführt werden, ohne dass ein einziger Quadratmeter Boden versiegelt wird, sagt Chychla: »Die Stadt hat genug Potenzial für Bau neuer Wohnungen, man muss es nur intelligent ausschöpfen.«

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.