Voller Ausländer

Martin Leidenfrost über das ukrainische Bildungsgesetz, Poroschenkos Kampf gegen Doppelpässler und patriotische Söhne

  • Martin Leidenfrost
  • Lesedauer: 4 Min.

Jene Gegend besuchte ich noch vor dem Beschluss des neuen ukrainischen Bildungsgesetzes. Dieses ist eine der vielen Zwangsmaßnahmen, mit denen die amorph-sowjetisch-multinationale Ukraine zu einem ethnolinguistisch reinen Nationalstaat umgeformt werden soll - ein Vorhaben, das im Westen immer noch Zustimmung bei Leuten findet, die zu Hause das genau entgegengesetzte Ideal vertreten. Dieses Gesetz schreibt vor, dass Kinder ab der 5. Klasse nur noch auf Ukrainisch unterrichtet werden und andere Sprachen nur als Freifach vorkommen. Im Herza-Gebiet, in dem laut Volkszählung 92 Prozent rumänischer Muttersprache sind, ist die Empörung groß. Und das war nur der letzte Einschlag. Monate zuvor sorgte eine Initiative für Aufregung, mit der Präsident Poroschenko Doppelstaatsbürgern die ukrainische Staatsbürgerschaft zwangsweise entziehen will. Das betrifft in westlichen Grenzgebieten Hunderttausende, die aus Existenzgründen ungarische, rumänische oder andere Pässe haben. Zieht Poroschenko das durch, bekommt er Landstriche voller Ausländer.

Mein Fahrer vom Kreisverkehr vor Czernowitz bis Herza hieß Grischa. Er war ein Ukrainer mit rumänischem Pass in einem aus Italien importierten Wagen mit bulgarischem Kennzeichen. Für den Import des zweitürigen Mercedes hätte Grischa in der Ukraine 6000 Dollar gezahlt. Bei der rumänischen Agentur, die Massen von Autos auf bulgarische Strohmänner anmeldet, kam er mit 500 Euro weg.

Ich kam am Abend in Herza an, dem Hauptdorf des Landkreises, der laut Legende nur deswegen von Rumänien zur Sowjetukraine wechselte, weil Stalins Bleistift beim Grenzenmalen stumpf geworden war. In der leeren Bar »Imperial« der erste Genuss: Auch wenn du der einzige Gast bist, wird dir aus einer Galerie von 12 bis 15 Brandys eingeschenkt.

Am Tage spazierte ich rum. Eine Schautafel zeigte Sehenswürdigkeiten des Gebiets. In der Aula der Kunstschule hing ein Weihnachtsbild: Schnee, Wald, Dorf, und Kinder in rumänischen Pluderhosen trugen einen kommunismusroten Stern.

Ich ging in die Gheorghe-Asachi-Kreisbibliothek. Direktorin Elena brauchte keine Atempausen, weder als wir Rumänisch noch als wir Russisch sprachen. In ihren Aussagen zur rumänischen Geschichte fand ich sachliche Fehler. Sie behauptete, selbst keinen rumänischen Pass zu haben, empörte sich aber über ihren Präsidenten: »Die Leute hier haben sich Pässe nicht aus politischen, sondern aus ökonomischen Gründen geholt. Um ihre Familie zu ernähren!« Ich fragte in die kleine Damenrunde, wie sie im Notfall entscheiden würden. Die junge Kinderbibliothekarin zeigte in die Himmelsrichtung, in der Rumänien lag.

Ich ließ mich über einen Feldweg fahren und über das Gerippe einer Brücke, von der Bukowina nach Bessarabien. Im ukrainischen Kreis Nowoselyzja deklarieren sich 58 Prozent als »Moldawier« und sieben als »Rumänen«. Mein Fahrer war ein pensionierter Schuldirektor. Herr Sandu hatte schon als Lehrer getaxelt, das brachte zehn Mal mehr als sein Gehalt, manche seiner Schüler fuhr er Samstagnacht in die Disko. Sein Sohn war 2014 als ukrainischer Berufssoldat auf der Krim stationiert gewesen und hatte eine Übernahme in die russische Armee abgelehnt. »Ein Patriot?« - »So was in der Art. Er dient jetzt im Donbass, für 300 Dollar im Monat, und hat die Schnauze voll.«

Die Kreisbibliothek in Nowoselyzja war größer. Ausleihe fand während meines Aufenthalts keine statt. Das Dutzend Bibliothekarinnen saß vor Setzkästen mit Karteikärtchen, halbwegs Rumänisch konnten nur zwei oder drei. Auch bei ihnen reichte die historische Erinnerung nur bis Großrumänien, das Zarenreich war vergessen. Eine zitternde Alte zeigte auf den grauen Neubau nebenan: »Dort war schon Österreich, dort stand das alte Zollhaus.«

Um persönlich werden zu können, führte mich Vizedirektorin Adela in den letzten Raum. Obwohl auch sie abstritt, einen rumänischen Pass zu haben, sprach sie mit leiser Bitterkeit über Poroschenkos Projekt. Sie war neun Jahre Kindermädchen in Kalabrien gewesen, ohne Sohn und Mann. Hier verdiente sie 80 Euro. Sie sprach von Subsistenzwirtschaft: »Man baut an, was geht. Eine von uns hat drei Kühe und verkauft die Milch.«

Ich fuhr nach Rumänien zurück. Mein letzter Fahrer, ein alter Czernowitzer Rumäne, schlug vor: »Alle Abgeordneten erschießen und dann auch noch alle, die aufs Begräbnis gehen. Nur so kommt Ordnung in unsere verhurte Ukraine.«

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