»Das Gericht guckt oft nicht genau hin«

In Großbritannien kämpfen Frauen gegen die steigende Tendenz, dass Jugendämter Kinder in Pflegeheime geben

  • Johanna Treblin, London
  • Lesedauer: 7 Min.

Rund 30 Frauen und zwei Männer stehen vor dem Familiengericht in der Londoner Innenstadt. »Kinder brauchen ihre Mütter, und Mütter brauchen ihre Kinder!« rufen sie im Sprechchor. Auf Schildern und in Wortbeiträgen prangern sie die »ungerechten Entscheidungen« des Gerichtshofs an, Müttern ihre Kinder wegzunehmen. Es ist Mittagszeit, hunderte Menschen drängen sich an den Demonstranten vorbei, die meisten beachten sie kaum. Moira Koeman - groß und schmal, orangefarbener Mantel und High Heels - bleibt stehen. Auch sie muss zurück zur Arbeit. Doch hier geht es um sie.

Spontan will Koeman, die eigentlich anders heißt, ihre Geschichte erzählen. Eine der Frauen reicht ihr das Mikrofon. »Ich war in einer glücklichen Beziehung«, erzählt die Mutter von drei Kindern. »Jedenfalls dachte ich das. Aber dann habe ich gemerkt, dass mein Mann meinen Bauch nur benutzt hat, um sein Visum zu behalten.« Koeman ist Niederländerin, Kind von Migranten und vor einiger Zeit nach London gezogen, um hier als Krankenschwester zu arbeiten. »Mein Mann hat 20 Jahre lang illegal in Großbritannien gelebt, bevor wir geheiratet haben.« Die Ehe sicherte ihm die Aufenthaltserlaubnis. Nach der Scheidung würde ihm nun eigentlich die Abschiebung drohen - wenn da nicht die Kinder wären, sagt Koeman.

Nicht-EU-Bürger müssen fünf Jahre lang legal im Vereinigten Königreich gelebt haben, um einen dauerhaften Aufenthaltstitel erhalten zu können. Wer heiratet, erhält eine befristete Aufenthaltsgenehmigung. Wer sich vor Ablauf der fünf Jahre scheiden lässt, kann trotzdem eine Aufenthaltserlaubnis bekommen: als Vater oder Mutter mit Sorgerecht für ein Kind, das die britische Staatsangehörigkeit oder eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung hat.

Kinder garantieren Aufenthalt

Nach mehreren Jahren Ehe schlug Koemans Mann sie zum ersten Mal. Sie rief die Polizei, mehrmals, bis die ihn schließlich »aus dem Haus zerrte«. Bald darauf erzählte er gemeinsamen Bekannten und bei Behörden, dass Koeman sich nicht ordentlich um die Kinder kümmere und sich weigere, mit ihnen zum Arzt zu gehen. Sie bestreitet das. »Warum sollte gerade ich nicht mit ihnen zum Arzt gehen, ich bin Krankenschwester!«

Der Streit um die Kinder brachte Moira und ihren Ex-Mann vor das Familiengericht. Der Richter urteilte schließlich, dass die Kinder zwar bei Koeman wohnen sollten. Jeden Freitag übernachten sie aber bei ihrem Ex-Mann. »Er geht mit ihnen in den Zoo und macht andere coole Sachen mit ihnen. Davon macht er Fotos, um zu zeigen, was für ein toller Vater er ist. Aber ob sie etwas zu essen bekommen ist ihm ziemlich egal«, sagt Koeman. »Er benutzt die Kinder nur für sein Visum.«

»Support not Separation«

Jeden ersten Mittwoch im Monat versammeln sich die Frauen vor dem Familiengericht. Organisiert werden die Kundgebungen von »Legal Action for Women« (Legale Aktion für Frauen, LAW), einer Gruppe, die Frauen kostenlosen Rechtsbeistand gewährt. Im Sommer gründete LAW das Netzwerk »Support not Separation« (Unterstützung nicht Trennung). Mitglieder sind unter anderem »Global Women’s Strike«, (Globaler Frauenstreik) »Single Mothers’ Self-Defence« (Selbstverteidigung Alleinerziehender Frauen) und »Black Women’s Rape Action Project« (Aktionsprojekt Schwarzer Frauen gegen Vergewaltigungen). Sie prangern an, dass die Zahl der Kinder, die zumindest zeitweise in Pflegeheimen oder -familien unterkommen, in den vergangenen Jahren rapide angestiegen sei. Angaben des Gesundheitsministeriums bestätigen das: Während 1993 etwa 50 000 Kinder in Pflegeeinrichtungen oder -familien waren, sind es in diesem Jahr bereits über 72 000 - ein Anstieg von 44 Prozent in 24 Jahren.

»Support not Separation« zufolge sind die meisten davon betroffenen Mütter alleinerziehend, haben ein geringes Einkommen, eine Behinderung oder Lernschwierigkeiten. Viele von ihnen sind eingewandert oder Kinder von Migranten. Etwa 56 Frauen haben sich in den vergangenen neun Jahren an die Beratungsstelle von »Legal Action for Women« gewendet, die ihre Kinder ans Jugendamt verloren haben. 51 Prozent von ihnen hatten einen Migrationshintergrund. Dem Gesundheitsministerium zufolge waren zum Stichtag am 31. März dieses Jahres 24 Prozent der Kinder in Pflegeeinrichtungen ausländischer Herkunft oder hatten Eltern mit einer Migrationsgeschichte. In den Erläuterungen zur Datenerhebung heißt es, »Nichtweiße« seien unter den in Pflegeeinrichtungen betreuten Kindern »etwas überrepräsentiert«. Die Autoren führen das auf »die Zunahme der Zahl der unbegleiteten asylsuchenden Kinder« zurück.

Armut hat zugenommen

Der starke Anstieg aller in Pflegeeinrichtungen untergebrachten Kinder wird nicht erklärt. »Die Armut hat in den vergangenen Jahren zugenommen«, sagt Anne Neale von »Legal Action for Women«. Einer der Gründe ist die Finanzkrise. Die britische Regierung senkte nach 2008 das Budget für Sozialwohnungen, Frauenhäuser und Sozialhilfe. Dadurch ist es für viele Menschen mit niedrigem oder gar keinem Einkommen schwieriger geworden, über die Runden zu kommen. Insbesondere gilt das für alleinerziehende Mütter, sagt Kim Sparrow, die die Gruppe »Single Mothers’ Self-Defence« gegründet hat und sich an der Kundgebung vor dem Familiengericht beteiligt. »Viele Mütter sind hart an ihrem Limit.« Der Staat solle diese Frauen unterstützen, damit sie sich selbst besser um ihre Kinder kümmern können. Doch stattdessen geben die Behörden das Geld lieber an Pflegefamilien, kritisiert Sparrow.

Ein Vorfall vor zehn Jahren hat diese Entwicklung noch beschleunigt: Der Tod von Peter Connelly, bekannt als »Baby P«. Wie die Guardian-Journalistin Louise Tickle berichtet, war Peter dem Jugendamt schon lange bekannt. Er starb schließlich an den Verletzungen, die seine Mutter und deren Freund ihm immer wieder zufügten. Danach setzten die Behörden alles in Bewegung, um »ein weiteres Baby P.« zu verhindern. Die Zahl der Säuglinge, die schon kurz nach der Geburt von ihren Müttern getrennt wurden, nahm in der Folge rasant zu: Von 2008 bis 2013 hat sie sich mehr als verdoppelt.

Schon davor gab es aber immer wieder Gesetzesreformen, durch welche die staatliche Kontrolle von Familien zunahm. Seit der Verabschiedung des Kindergesetzes von 2004 müssen beispielsweise nicht nur die Mitarbeiter von Jugendämtern, sondern auch alle anderen Fachkräfte, die mit Kindern in Kontakt kommen - also auch Ärzte und Lehrer -, es melden, wenn sie sich um das Wohl von Kindern sorgen.

»Was ist mit den Vätern?«

Die meisten Menschen, die an diesem Mittwoch am Familiengericht vorbei laufen, ignorieren die protestierenden Frauen. Andere zeigen sich solidarisch: Ein Mann, der auf dem Fahrrad vorbeifährt, hebt seine Faust zum Gruß. Ein anderer Mann in einem schwarzen Anzug will wissen: »Was ist mit den Vätern? Haben sie kein Recht, ihre Kinder zu sehen?« Ein Flugblatt, das ihm eine der Frauen entgegenhält, wedelt er weg, hört ihr aber zu. Auf ihre Erklärung, dass manche Männer gewalttätig seien und auch ihre Kinder misshandeln, ruft er aus: »Aber das ist doch kein guter Vater!«

71 Prozent der erwähnten 56 Mütter, die die Beratungsstelle von »Legal Action for Women« aufsuchten, waren den Angaben zufolge häuslicher Gewalt ausgesetzt. Das deckt sich mit Zahlen, die die gemeinnützige Organisation »Women’s Aid« (Frauenhilfe) nennt. In 70 bis 90 Prozent aller Fälle, die vor Familiengerichten landen, war demnach häusliche Gewalt im Spiel. Häufig leben die Frauen länger in einer gewalttätigen Beziehung. Die Gerichte legen ihnen zur Last, die Kinder dieser Atmosphäre auszusetzen. Doch nicht immer können sich Frauen ohne weiteres aus einer gewalttätigen Beziehung befreien. Bei einigen ist es psychische Abhängigkeit, die sie beim Partner bleiben lässt, bei anderen finanzielle: Frauen arbeiten häufiger gar nicht oder nur in Teilzeit und haben kein oder nicht ausreichend eigenes Geld zur Verfügung. Mit der Kürzung der Gelder für staatliche Hilfsprogramme hat sich das Problem vergrößert. Bei Migrantinnen kommt zudem häufig die Angst vor Abschiebung hinzu.

Prozesskostenhilfe abgeschafft

Bei einer Trennung der Ehepaare sieht das Gesetz seit 2014 vor, dass sich weiterhin beide Elternteile gleichermaßen um die Kinder kümmern. Weil zudem der Zeitrahmen gekürzt wurde, in dem das Familiengericht einen Fall erledigt haben muss, kommt es vor, dass Richter auch gewalttätigen Männern das geteilte Sorgerecht zuspricht, kritisiert »Support not Separation«. »Das Gericht guckt oft nicht genau hin«, klagt Koeman. »Dadurch ist es letztlich ein weiteres Instrument der Schikane.« Weil sie sich im Gegensatz zu ihrem Ex-Mann keinen Anwalt leisten könne, fehle ihr die juristische Unterstützung - 2002 wurde auch noch die Prozesskostenhilfe abgeschafft. Hinzu kommt, dass die Verfahren vor dem Familiengericht nicht öffentlich sind. Prozessbeteiligten ist es zudem verboten, über die konkreten Inhalte der Verhandlungen zu sprechen. Dadurch können sie sich weder Unterstützer mitnehmen, noch können sie ihre Fälle außerhalb des Gerichts detailliert besprechen.

»Ich fühle mich so machtlos«, sagt Koeman. »Deshalb war ich froh, als ich gesehen habe, dass die Frauen hier für unsere Rechte kämpfen. Ich musste einfach das Mikrofon in die Hand nehmen.«

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.