Der »rote Ingenieur« tritt ab

Eurogruppenchef Jeroen Dijsselbloem beendet seine politische Karriere. Von Kay Wagner , Brüssel

  • Kay Wagner
  • Lesedauer: 4 Min.

Roter Ingenieur», «calvinistischer Dogmatiker» oder auch «Geert Wilders der Linken»: An pikanten Spitznamen mangelt es Jeroen Dijsselbloem nicht. Niederländischer Finanzminister war er bis Mittwoch, Eurogruppenchef ist er noch bis Januar. Sein Ministeramt legte der 51-Jährige Mitte der Woche erwartungsgemäß nieder. Dijsselbloems Sozialisten gehören der neuen Regierung in den Niederlanden nicht mehr an. Überraschend ist dagegen, dass auch Dijsselbloems politische Karriere endet. Er wolle seinen Sitz als Abgeordneter aufgeben und sich aus der niederländischen Politik zurückziehen, verkündete Dijsselbloem am 10. Oktober. Er habe kein «Kraftfeuer» mehr, um die Sozialdemokraten nach der verheerenden Wahlschlappe vom Frühjahr wieder mit aufzurichten. Und: «Meine Angehörigen haben auch Anrecht auf mich, und in den vergangenen Jahren bin ich dieser Verpflichtung zu wenig nachgekommen.»

Auf ihn warten Frau, zwei Kinder und ein Hof in Wageningen, einem Universitätsstädtchen westlich von Arnheim. Dort züchtet Dijsselbloem auch Schweine. «Das Fleisch schmeckt viel besser als das, was man gewöhnlich kauft», sagte er Mitte 2013 dem niederländischen Polit-Magazin «Vrij Nederland».

Das widmete dem studierten Agrarwissenschaftler damals einen langen Artikel zum vorläufigen Endpunkt seines steten Aufstiegs in der Politik. Ende 2012 war er trotz fehlender Erfahrung zum niederländischen Finanzminister ernannt worden. «Ich bin kein Zahlen-Fetischist von Haus aus», gab Dijsselbloem offen zu. Den nationalen Weihen folgten nur wenige Wochen später die europäischen mit der Wahl zum Chef der Eurogruppe. Der bis dahin den Euro fast personifizierende Luxemburger Jean-Claude Juncker hatte sein Amt aufgegeben.

Bei der Suche nach einem Nachfolger konnten sich die EU-Staaten zunächst nicht einigen. Ein Niederländer schien ein guter Kompromiss. Und plötzlich war der in Eindhoven geborene Landwirtschaftsspezialist einer der einflussreichsten Finanzpolitiker der Welt. Und der machte auch in Brüssel Politik so, wie es die Niederländer von ihm gewohnt waren: unbequem, manchmal unberechenbar, nicht unbedingt so, dass man ihm das Etikett Sozialdemokrat verleihen würde. «Dijsselbloem war kein Freund von mehr Demokratie in Europa. Seine Welt war das Hinterzimmer der Eurogruppe der Finanzminister», sagt Sven Giegold, Finanzpolitiker der Grünen im Europaparlament, über ihn.

Als Nachrücker kam Dijsselbloem im Jahr 2000 erstmals für die «Partij van de Arbeid» (PvdA) ins Parlament und baute sich das Image des «roten Ingenieurs» 2003 selbst auf, um die Erneuerung seiner Partei einzuleiten. Die hatte 2002 erdrutschartig in der Wählergunst verloren, sackte von vormals 29 Prozent auf 15 Prozent ab. Schnell machte Dijsselbloem sich einen Namen damit, dass er Tabuthemen in seiner Partei ansprach, wie zum Beispiel das von Integration und Gewalt. Als er sich 2008 für die Einführung eines Registers stark machte, in dem straffällig gewordene Menschen aus den Niederländischen Antillen eingetragen werden sollten, bekam er den erwähnten Titel «Geert Wilders der Linken» vom PvdA-Urgestein Marcel Van Damm. Im gleichen Jahr forderte er eine Quote für Integration, was vom linken Flügel seiner Partei als «Kapitulation vor Rechts» ausgelegt wurde. «Wir haben versucht, ideologische Tabus zu brechen und die Probleme pragmatisch anzugehen. Auch mit unorthodoxen Lösungen. Das versuche ich immer noch», sagte Dijsselbloem rückblickend im Sommer 2013.

Als er Anfang 2012 vorübergehend Fraktionsführer seiner PvdA wurde, lehnte er es ab, diese Funktion dauerhaft zu bekleiden. Für die Wahlen 2012 kam er auf Listenplatz fünf, blieb auch danach loyal im Schatten von Partei- und Fraktionsführer Diederik Maarten Samsom und bewarb sich auch nicht für eine der PvdA-Führungsrollen, als Samsoms Stern zu sinken begann und er Ende 2016 anderen Politikern weichen musste.

Vielleicht ahnte Dijsselbloem, dass seine Popularität durch die strenge Finanzpolitik Kratzer bekommen hatte. Die Bezeichnung «calvinistischer Dogmatiker» verdiente er sich in dieser Zeit. Parteigenossen veröffentlichten 2015 ein Manifest gegen seine Politik, die sie als «neoliberal» und «rechts-rot» bezeichneten. «Wenn ich vor meinen Parteigenossen eine Rede halte, klatschen alle Beifall. Gleichzeitig kritisieren sie, dass wir bei der Pflege zu viel gespart haben. Ich bin nicht Schuld an dieser Schizophrenie», sagte Dijsselbloem Anfang März. Und fügte hinzu: «Finanzminister bekommen immer viel Anerkennung, wenn sie ihr Amt streng ausüben.» Das habe er gemacht. Vorwürfe, mit seinen Entscheidungen zum Abbau von sozialen Errungenschaften sozialdemokratische Werte missachtet zu haben, wies er von sich.

Es folgten die Parlamentswahlen, die PvdA kam nur auf 5,7 Prozent. Ein Debakel. «Der Preis für Reformen, die wir als Sozialdemokraten ermöglicht haben», so sieht Dijsselbloem das. Stolz sei er auf die Reformen, schreibt er zu seinem Abschied, und dass er seiner Partei ermöglichen wolle, ohne ihn wieder eine neue Rolle in den gut für die Zukunft aufgestellten Niederlanden zu spielen. Er, der Anfang März noch gesagt hatte: «Aufgeben liegt nicht in meinen Genen.»

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!