Erneut Syrien auf der Anklagebank
UN-Giftgasbericht mit einigen Ungereimtheiten
Der Streit um die Giftgas-Opfer von Chan Scheichun geht in die nächste Runde. UN-Experten hatten syrische Regierungstruppen am Wochenende erneut für den Giftgasangriff auf die Ortschaft im Nordosten vom April verantwortlich gemacht. Dabei waren 80 Menschen gestorben. Die Beweislage stütze das »vorherrschende Szenario«, wonach das Nervengas Sarin durch »eine von einem Flugzeug abgeworfene Fliegerbombe« freigesetzt worden sei, heißt es in einem im UN-Sicherheitsrat in New York vorgelegten Untersuchungsbericht.
Die Experten der UN-Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) zeigten sich in ihrem an den UN-Sicherheitsrat übergebenen Bericht »überzeugt« von der Verantwortung der syrischen Armee. Auswertungen von Foto- und Videoaufnahmen eines Kraters hätten ergeben, dass dieser von einer »relativ großen Bombe« verursacht worden sei. Diese sei »aus mittlerer oder großer Höhe« abgeworfen worden. Dies, so ihre Behauptung, könne allein die syrische Luftwaffe getan haben. Laboruntersuchungen hätten zudem gezeigt, dass das Giftgas, Sarin, vermutlich aus einem Ausgangsstoff aus syrischen Chemiewaffenbeständen hergestellt worden sei. Das bestreitet niemand, auch Damaskus nicht, das auf die Möglichkeit verweist, dass Rebellen in den Besitz syrischer Giftgas-Bestände gelangt sein könnten, ehe diese zur Vernichtung durch die OPCW abtransportiert werden konnten.
Ungesagt blieb zudem, dass neben den russischen und den syrischen auch die Luftstreitkräfte anderer Staaten in Syrien agieren, zum Beispiel die der Türkei und der USA, auch Frankreichs. Der französische Außenminister Jean-Yves Le Drian bezeichnete den Bericht des sogenannten Gemeinsamen Untersuchungsmechanismus von UNO und OPCW ungeachtet dessen als Bestätigung »der schweren Vergehen des syrischen Regimes«.
Russland und Syrien haben das am Freitag ein weiteres Mal entschieden zurückgewiesen. Aus Moskau heißt es, die Freisetzung des Giftgases sei höchstwahrscheinlich nicht durch einen syrischen Luftangriff, sondern durch eine am Boden detonierte Bombe der Regierungsgegner ausgelöst worden.
Das syrische Außenministerium erklärte, der Bericht habe »die Wahrheit verfälscht« und »Informationen verzerrt«. Russlands Vize-Außenminister Sergej Rjabkow sagte der Nachrichtenagentur Interfax, der Bericht weise »Ungereimtheiten« auf und beinhalte »unbestätigte Beweise«. Es gebe »Unstimmigkeiten« bei logischen Zusammenhängen, außerdem seien »zweifelhafte Zeugenaussagen« verwendet worden. Andere Länder wollten den Bericht dazu verwenden, »ihre eigenen geopolitischen Ziele in Syrien zu erreichen«.
Damaskus und Moskau verweisen in diesem Zusammenhang darauf, dass alle Untersuchungen, von denen jetzt gesprochen wird, in der Türkei durchgeführt wurden. Es ist unklar, welches Material die OPCW-Experten zur Überprüfung vorgelegt erhielten. Bekannt ist aber, dass sie russische und syrische Berichte und Unterlagen ablehnten, in ihre Beweisaufnahme einzubeziehen.
Nicht gerade vertrauensbildend ist auch der Umstand, dass der OPCW-Expertenbericht dem US-Sender CBS offenbar vorliegt, er aber Nachrichtenagenturen wie Reuters mit der Begründung vorenthalten wurde, dass er erst am 7. November veröffentlicht werde. roe/AFP
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