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»Wir sticken Frauenmorde«
Mexiko: Mit schillernden Kampagnen erinnern Aktivistinnen an die Ermordeten und nehmen den Staat in die Pflicht
»Was sticken Sie denn da?«, fragt immer jemand. Minerva Valenzuela erzählt lächelnd von der Kampagne »Bordamos Femicidios«, die für eine Erinnerungsarbeit von Frau zu Frau steht. »Wir sticken Femizide«, erklärt Valenzuela, »die Idee ist, dass Frauen etwas Lebenszeit einer ermordeten Frau widmen und deren Fall auf ein Tuch sticken.« Über 500 Stickerinnen sind es heute, die sich auf der Straße und über Facebook gefunden haben. Gestickt wird aus einer sehr persönlichen Sicht.
Wenn hunderte Tücher im Wind flattern, erregt dies Aufmerksamkeit und die mörderische Gewalt gegen Frauen in Mexiko wird sichtbar: in der Bank, an der Bushaltestelle oder vor Regierungsgebäuden. »Bordamos Femicidios« verbreitet den tagtäglichen Femizid auch in den sozialen Medien. Eine wichtige Aufgabe, denn sensationslüsterne Pressemeldungen machen Frauen immer wieder selbst für die Gewalt gegen sie verantwortlich. »Wir versuchen, uns nicht paralysieren zu lassen«, so Minerva Valenzuela. »Wir wollen aktiv und solidarisch bleiben.«
Anfang der 1990er Jahre wurde es in der mexikanischen Stadt Ciudad Juárez erstmals notwendig, dem Femizid einen Namen zu geben: Eine bis heute nicht endende Serie von Frauenmorden an Industriearbeiterinnen begann dort in Zeiten von Verstädterung, Migration und Geschlechterrollenwandel. Ausschlaggebend für die Hassmorde an Frauen ist ein tief verwurzelter Machismus und der Drogenhandel. Auch die Regierung trägt einen großen Teil der Verantwortung. So wurde Mexiko im Jahr 2009 vom Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof wegen Vereitelung von Ermittlungen schuldig gesprochen.
Zwei Jahre später wurde auch Susana Chávez Opfer eines Femizids. Die juarensische Dichterin hatte die Phrase »Ni una más«. »Nicht eine mehr«, geprägt, die zum Motto einer ganzen Bewegung wurde. Nachdem sich die Frauenmorde von der Nordgrenze in das Zentrum Mexikos sowie nach Mittel- und Südamerika ausgebreitet hatten, hallte von dort schließlich der Schlachtruf »Ni una menos« zurück.
Eine, die auf keiner Demonstration fehlt, ist Irinea Buendía. Die Frau mit den dicken grauen Haaren erhielt an einem Morgen vor sieben Jahren den Anruf ihres Schwiegersohnes. »Deine Tochter hat sich aufhängt«, bemerkte er lapidar. Doch der Körper von Mariana war mit blauen Flecken und Schrammen übersäht. Viele Ungereimtheiten am Tatort wiesen auf einen Mord hin. Die Polizei jedoch übernahm die Version des Ehemannes. Dass dieser - ebenfalls Polizist - immer wieder angekündigt hatte, seine Frau zu töten, interessierte die Beamten nicht. Ebenso wenig, dass die Tote den Mut gefasst hatte, sich aus der gewaltsamen Beziehung zu befreien.
Irinea Buendía ist müde. Von Angehörigen der Staatsanwaltschaft, die sie hinhalten, anlügen, bedrohen. »Man hat uns eine Pension angeboten, um endlich zu schweigen. Als ob meine Tochter einen Preis hätte«, sagt sie wütend. »Wir wollen Gerechtigkeit.« Der Fall wäre wie so viele Fälle einfach zu den Akten gelegt worden. Doch die resolute Mutter ging mit Hilfe von Nichtregierungsorganisationen vor den Obersten Gerichtshof. Im März 2015 entschied dieser nicht nur, dass der Fall neu aufgerollt werden müsse. Nach Verfügung der obersten argentinischen Justizinstanz muss nun bei allen Gewaltverbrechen an Frauen zunächst ein Femizid geprüft werden. Ein bahnbrechendes Urteil.
Feministische Initiativen haben Erfolg in Mexiko. Denn sie fluten mit künstlerischen Grafiken, Linoldrucken (vivasnosqueremos) und stilisierten Suchplakaten öffentliche Räume wie soziale Netzwerke (hastaencontrarlas). Indem sie die Frauenmorde sichtbar machen, setzen die Initiativen Justiz und Politik unter Druck. Wie auch im Fall des Mordes an der Studentin Lesvy Berlín durch ihren Freund im Mai dieses Jahres, der sich nun nach einer Revision des Falles endlich als Mörder verantworten muss. Wie im Fall der insgesamt mehr als 2500 ermordeten Frauen im Bundesstaat Mexiko, die die Gouverneurswahlen im Juni zur »Wahl gegen Femizide« machten, nachdem dort trotz eines seit zwei Jahren verhängten »Gender-Ausnahmezustandes« keinerlei Massnahmen ergriffen wurden.
Ecatepec ist eine der Gemeinden des Bundesstaates Mexiko, in denen die Femizidzahlen am dramatisch-sten sind. Doch die Annahme, dass sich hier junge Frauen und Mädchen nicht mehr auf die Straße trauen, ist falsch. Vielmehr sorgen organisierte Schülerinnen regelmäßig für spektakuläre Performances. »Natürlich habe ich Angst«, sagt Ana mit ernstem Blick, »aber wir versuchen, uns nicht unterkriegen zu lassen.« Die Mädchen haben sich Blutgerinnsel und blaue Flecken ins Gesicht geschminkt und gehen in ihren Debütantinnenkleidern auf die Straße, in einer Art von Prinzessinengewändern also, die in Mexiko beinahe jede 15-Jährige trägt, wenn sie offiziell in die Gesellschaft eingeführt wird. Antiquierte Frauenbilder, durch tödliche Gewalt konterkariert.
»Mit den Performances können wir auf unsere Situation aufmerksam machen«, erklärt Anas Mitstreiterin Maribel und bindet sich die braunen Haare zum Pferdeschwanz. »Wir hoffen, dass man uns in Mexiko und weltweit wahrnimmt. Denn das hier geht ja nicht nur uns etwas an.« Am kommenden »Día de los Muertos«, dem »Tag der Toten«, der in diesen Tagen in Mexiko groß gefeiert wird, wollen sie sich als »Catrinas«, also als aparte Skelette, schminken und auf eine Großdemonstration gegen Frauenmorde in die nahe Hauptstadt fahren.
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