Talentschau von großer Spannweite

Brüssels Tanzszene präsentiert sich »Radikal« im Radialsystem

  • Volkmar Draeger
  • Lesedauer: 3 Min.

Brüssel ist als Sitz der Europäischen Kommission hinlänglich bekannt und taucht in dieser Mission regelmäßig in den Medien auf. Viele kennen die belgische Hauptstadt auch als Metropole zeitgenössischer Kunst. Die Initiative von Rachid Madrane, Minister für Stadtförderung in Brüssel und der Föderation Wallonie-Brüssel, jene Künstler zu popularisieren, die Brüssel als Wohnsitz gewählt haben, ist zugleich ein Dank an deren Schöpferkraft. Was in der ersten Ausgabe mit zeitgenössischer Kunst 2016 in Paris begeisterte, setzt sich 2017 in Berlin fort und bietet nun einen konzentrierten Blick auf Brüssels aufstrebende junge Tanzszene. Sie rekrutiert sich, ähnlich wie in Berlin, aus Zuzüglern aller Nationen, die neben Absolventen aus Anne Teresa De Keersmaekers weltweit renommiertem Ausbildungszentrum P.A.R.T.S. den kreativen Jungborn bilden, aus dem choreografische Talente sprudeln. Einigen von ihnen ist jetzt das Festival »Radikal« im Radialsystem V ein Podium für ihre internationale Präsenz. Die Leiter vier wichtiger Brüsseler Tanztheater haben sie erwählt, Sasha Waltz, Brüssel eng verbunden, firmiert als Schirmherrin der Leistungsschau.

Rund 20 Choreografen und Tänzer aus zehn Ländern exportiert »Radikal« nach Berlin und fächert ein breites Spektrum dessen auf, womit sich die Brüsseler Freie Szene derzeit beschäftigt. Dass sie finanziell unter ebenso bedrängten Bedingungen wie ihr Berliner Pendant arbeitet, sei zumindest erwähnt. Dass das Festival auf einen Popularitätsschub in Richtung Berlin für seine Teilnehmer hofft, liegt ebenso auf der Hand.

Das Festival beginnt am ersten Novemberwochenende mit dem Trio »Hérétiques« der mehrfach prämierten Argentinierin Ayelen Parolin. In endlos variierten geometrischen Formen forscht sie Aspekten wie Wiederholung und Ausdauer rund um das Leitmotiv Dreieck nach. Klavier begleitet das zeitgenössische Ritual mit seinen maschinenhaften Bewegungen. In einem Workshop tags darauf wird sie kompositorische Fragen behandeln. »Gone in a Heartbeat« nennt die klassisch und modern ausgebildete Louise Vanneste ihr Quartett, das sich aus vier parallel laufenden Soli fügt und in immer anderen Raumkonstellationen das Gegensatzpaar Einheit und Vielfalt improvisierend umkreist. Auch die Gestik von Rockgruppen, sagt sie, habe das Stück beeinflusst.

An Dore Hoyers »Boléro«, nur aus Drehungen am Platz bestehend, fühlt man sich bei Daniel Linehans Solo »Not about everything« erinnert: Auch der US-Amerikaner begibt sich in die physische Ausnahmesituation einer konstanten Drehbewegung um die eigene Achse. Verwirrung, Schwindel und zugleich Kontemplation, wie sie etwa türkische Derwische in ihrer permanenten Platzdrehung als spirituelle Vereinigung mit Gott anstreben, fließen dabei in eins. Als Gast und Mentor wirkt Linehan an Tanzinstituten weltweit. Von der Figur Log Lady aus der TV-Serie »Twin Peaks« des amerikanischen Multitalents David Lynch ließ sich Samuel Lefeuvre, gebürtig aus Frankreich, zu seinem Solo »monoLog« anregen. Ein Mann wehrt darin symbolhaft vergebens eine Spinne ab, die ihn von innen her zerfrisst. In Richtung Performance bewegt sich sein Genter Kollege Louis Vanhaverbeke in dem Solo »Multiverse«. Wenn er mit Plattenspielern und Utensilien aus der Werkzeugkiste zu seinen Lieblingshits agiert, mit Worten jongliert, hinterfragt er letztlich auch seinen Platz in der Welt.

Fünf Tänzer schickt der spanische P.A.R.T.S.-Absolvent Salva Sanchis in einen rasanten tänzerischen Dialog mit Klängen aus minimalem Technosound und experimenteller Elektromusik. Beats verbinden in »Radical Light« Tanz und Musik zu einer pulsenden Gesamtkomposition. Auch Leslie Mannès aus Brüssel versetzt sich in dem Solo »Atomic 3001« mit ausgeklügeltem Lichtdesign in eine kraftzehrende Raserei zu stetem Technogedröhn, ohne je die Kontrolle über ihren Körper zu verlieren. Als Spaziergang durch den öffentlichen Raum hat der Ballett- und P.A.R.T.S.-Absolvent Benjamin Vandewalle »Walking the line« angelegt: Seine partizipative Choreografie vermittelt den Teilnehmern beim geführten Gang durch die Stadt mit rahmenden Sichtboxen neue Blickwinkel und Einsichten.

3./4. November., Radialsystem V, Holzmarktstraße 33, Friedrichshain

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.