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Experte: Aktivierungsstrategie der Jobcenter ist gescheitert
Forscher Matthias Knuth sieht Arbeitsmarkt angesichts neuer Zahlen nicht in bester Ordnung und fordert radikale Neuausrichtung
Duisburg. Der Arbeitsmarktforscher Matthias Knuth fordert eine radikale Neuausrichtung der Arbeitsmarktpolitik. »Wir müssen dauerhaft von einigen 100.000 Personen ausgehen, die für eine vorzeitige Rente zu gesund, für eine Altersrente zu jung und für den Arbeitsmarkt zu krank sind. Für die bietet die derzeitige Aktivierungsphilosophie der Jobcenter keine Perspektive«, erklärte der Wissenschaftler vom Institut Arbeit und Qualifikation an der Universität Duisburg-Essen. Er plädierte dafür, einen »Sozialen Arbeitsmarkt« aufzubauen, auf dem Langzeitarbeitslose Beschäftigung und wieder gesellschaftliche Anerkennung finden.
Knuth widersprach der offiziellen Darstellung, der hiesige Jobmarkt sei in bester Ordnung. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen sinke seit Jahren nicht, erläuterte Knuth: »Es sind seit 2012 immer rund eine Million.« Daher sollte man die Lobpreisung nicht übertreiben: »Wir haben jetzt in etwa den Stand vor der deutschen Einigung erreicht. Damals wurde dieser Zustand jedoch allgemein als unbefriedigend angesehen.«
Für größere Vermittlungserfolge hätten die Jobcenter nach wie vor nicht die nötige Personalausstattung. Auch seien deren Organisationskultur und der gesetzliche Rahmen, unter dem sie agieren, »für die Entfaltung von Breitenwirkung im Arbeitsmarkt nicht gerade förderlich«.
Der Professor warb für eine Abkehr von den Leitideen von Hartz IV. »Man sollte sich grundsätzlich eingestehen, dass man durch Druck und Sanktionsdrohungen bestenfalls verwaltungskonformes Verhalten von Arbeitslosen erzwingen kann, aber keine in dauerhafte Arbeit führende Aktivierung.« Die Jobcenter hätten keine Macht über das individuelle Verhalten auf dem Arbeitsmarkt.
Erfolgreich könnten sie in Sachen Vermittlung nur sein, wenn es ihnen gelinge, die Selbstbehauptungskräfte ihrer »Kunden« zu stärken, unterstrich Knuth. Das bedeute: Umgang in den Behörden auf Augenhöhe, ernsthafte Berücksichtigung von Wünschen der Klienten, Eingliederungsvereinbarungen nur auf freiwilliger Basis und die Einrichtung von vorgerichtlichen Klärungs- und Mediationsinstanzen bei Konflikten.
Knuth geht davon aus, dass es auch nach umfassenden Reformen zahlreiche erwerbsfähige Hilfebedürftige geben wird, »die keine Chance auf dem Jobmarkt haben«. Für sie regt er öffentliche Beschäftigungsverhältnisse in einem »Sozialen Arbeitsmarkt« an, für den auch private Firmen Jobangebote machen sollen: »Wir brauchen einen anderen politischen Diskurs über derzeit dauerhaft vom Arbeitsmarkt ausgeschlossene Menschen, der es für Unternehmen ehrenhaft macht, sie zu beschäftigen.«
Auch der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, prangert fehlendes politisches Engagement bei der Integration von Langzeitarbeitslosen an. »Es fehlt ihnen an Qualifizierung. Es muss viel mehr für die Integration und Fortbildung von Langzeitarbeitslosen geben«, forderte Fratzscher in einem Interview der »Passauer Neuen Presse«. Nur so könne im Land tatsächlich Vollbeschäftigung erreicht werden. Die gute Lage am Arbeitsmarkt verdanke Deutschland vor allem seiner Exportstärke und der Einwanderung zahlreicher Menschen - vor allem aus anderen europäischen Ländern.
»Ziel der nächsten Bundesregierung muss es sein, mehr Langzeitarbeitslose in Jobs zu bringen«, forderte Fratzscher. Trotz immer neuer Rekorde am deutschen Arbeitsmarkt sieht er noch viel Verbesserungsbedarf. »Die Qualität der Arbeit muss verbessert werden«, sagte er im Hinblick darauf, dass jeder fünfte Arbeitnehmer einer atypischen Beschäftigung nachgehe - etwa im Niedriglohnbereich oder in Teilzeit arbeite. »Es muss bessere Arbeit zu guten Bedingungen und Löhnen geben. Das gelingt nur über Qualifizierung und eine bessere Abdeckung durch Tarifverträge vor allem im Niedriglohnbereich«, sagte der DIW-Präsident.
Positiv bewertete Fratzscher das Ziel, die Sozialversicherungsbeiträge unter 40 Prozent stabilisieren zu wollen. Dies sei wichtig, weil die im internationalen Vergleich »ungewöhnlich hohe« Belastung einen Wettbewerbsnachteil darstelle. epd/nd
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