Schuld und Rausch
Wie aus großem Leid große Kunst entsteht - George Michaels Großwerk »Listen Without Prejudice« wurde neu aufgelegt
Die Unschuld verlor George Michael am Tag nach seiner Geburt. Da gab der Onkel - schwul in einer Zeit, als Schwulsein als Frevel galt - seiner Todessehnsucht nach. »Ich glaube, er musste warten, bis meine Mutter mich hatte«, beschrieb George Michael 40 Jahre später in dem Song »My mother had a brother« den zeitlich genau abgepassten Selbstmord - die Geburt des Neffen als Freifahrtschein für den eigenen Todestrip. War der Säugling Georgios schuld an einem Suizid?
Schuld - ein Begriff, der in der Welt von Sex & Drugs & Rock ’n’ Roll ja eigentlich nicht vorgesehen ist. Alles hat gefälligst Spaß zu sein. Das Leben als große Sause. Erst recht, wenn man Wham! heißt und gleich mit der ersten Single, dem »Wham Rap«, die Nonstop-Party eröffnet: »Enjoy what you do!« Also tut George Michael das, was junge Männer halt so tun, wenn sie die Möglichkeit dazu haben: Er schläft mit vielen Frauen - und fühlt sich mies dabei. Weil er sich zwar körperlich, nicht aber seelisch zu ihnen hingezogen fühlt.
Er spürt, dass er »emotionally gay« ist, und schämt sich dafür, dass er Frauen am Ende nur benutzt. In jenen Tagen entsteht »Careless whisper«, und plötzlich kommt einem die alberne Zeile »Ich werde nie wieder tanzen; schuldige Füße haben keinen Rhythmus« gar nicht mehr so albern vor.
Natürlich hat George Michael weitergetanzt, aber er hat aufgehört, wahllos mit Frauen zu schlafen. Er hat stattdessen - mit 23 - seine erste und einzige »richtige« Freundin, Kathy Jeung. Und weil er sich im Video zu »I want your sex« ausgiebig mit ihr räkelt, hält sich in der Öffentlichkeit noch ein paar Jahre der Glaube, George wäre ein typischer Lederjacken-Heten-Macho.
Das ändert sich mit seiner großen Liebe, Anselmo Feleppa, der an Aids erkrankt und 1993 stirbt. Ein vermeidbarer Tod? George Michael glaubt, dass eine Therapie in den USA oder London Anselmos Leben gerettet hätte. Doch aus Angst vor dem Medienrummel hatte sich Anselmo nach Brasilien abgesetzt und dort eine Hirnblutung erlitten. So endete die Flucht vor dem Ruhm des Partners im Tod. Und wieder ist sie da, die unsichtbare Verfolgerin: die Schuld. George Michael verarbeitet sie in »Jesus to a child«. Ein neuer Song nach mehreren Jahren Pause und zugleich das alte Lied: große Kunst, die aus großem Leid erwächst.
Ist sein Glück das Unglück anderer? 1996 verliebt er sich erneut. Als er seiner Mutter davon berichtet, beichtet sie ihm, man habe Krebs bei ihr festgestellt. Ein Jahr später ist auch sie tot. Und jetzt kennt George Michael kein Halten mehr. Er ist die Tiefschläge leid, will die Kontrolle über sein Leben zurück - indem er den Skandal sucht und findet. Die Toilettenfestnahme-Farce 1998 nutzt er für einen Befreiungsschlag. Das Video zu »Outside« zeigt die andere Seite George Michaels. Hier ist er nicht mehr das Opfer, dem das grausam launische Schicksal die Liebe(n) raubt, sondern der Angreifer, der sein Recht auf Ekstase einfordert.
Das Lied funktioniert auch ohne die Bilder. Weil das Treiben der Beats das Miteinander-Treiben vorwegnimmt - wie in vielen seiner Dance-Nummern. Deshalb ist es nur konsequent, dass George Michael die Stücke für seine Best-of-Sammlung »Ladies & Gentlemen«, die im gleichen Jahr erscheint, anatomisch sauber trennt nach »For the Feet« und »For the Heart«. Dadurch entsteht das Bild eines Menschen, der gegensätzlicher kaum sein könnte: Er ist der Sanguiniker, der immer wieder neu anfangen will, sich voller Lebensgier in die Nacht stürzt, um am nächsten Morgen als Melancholiker aufzuwachen, weil ihn Weltschmerz und Schuldgefühle, die ihm quasi in die Wiege gelegt wurden, einmal mehr eingeholt haben.
Dieser ständige Kampf gegen sich selbst - das Hin und Her zwischen Rausch und Ernüchterung, zwischen neuem Glück und altem Unglück - hat ihm nach und nach die Kraft geraubt. »Das Licht, das doppelt so hell brennt, brennt eben nur halb so lang«, heißt es in »Blade Runner«.
Seit Kurzem ist eine Neuversion des Albums »Listen Without Prejudice Vol. 1« von George Michael erhältlich. Dieses enthält als Bonus die 1996 entstandene »MTV Unplugged«-Session sowie den kurz vor seinem Tod mit Nile Rodgers produzierten Song »Fantasy«.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.