Mehr junge Thüringer brauchen Hilfe

Zunehmende Kinderarmut ein Grund für den Anstieg

  • Lesedauer: 3 Min.

Erfurt. Deutlich mehr junge Thüringer als noch vor einigen Jahren sind auf psychosoziale Hilfen aller Art angewiesen. 2016 habe es etwa 2350 Fälle im Freistaat gegeben, bei denen Kinder und Jugendliche stationär in einer Psychiatrie hätten behandelt werden müssen, sagte ein Sprecher des Gesundheitsministeriums. Sechs Jahre zuvor seien es noch etwa 1800 vergleichbare Fälle gewesen.

Auch die Zahl der bei der Kassenärztlichen Vereinigung abgerechneten ambulanten Behandlungsfälle für psychosoziale Hilfen für Kinder und Jugendliche sei im gleichen Zeitraum deutlich gestiegen - von etwa 34 300 im Jahr 2010 auf mehr als 46 500 im Jahr 2016. Ärzte machen verschiedene Ursachen für die steigenden Erkrankungen verantwortlich.

Der Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Hainich-Klinikum in Mühlhausen, Fritz Handerer, sieht einen Grund darin, dass immer mehr Kinder und Jugendliche mit den vielen Freiheiten nicht zurecht kämen, die sie heute hätten. »Man könnte auch sagen: Das Buffet des Lebens ist reich bestückt und trotzdem steigen die Zahlen«, erklärte er. Die meisten Jugendlichen könnten sich beispielsweise aussuchen, welche Lehrstelle sie annähmen.

Noch vor einigen Jahren hätten sie sich dagegen oft glücklich schätzen können, irgendeine Lehrstelle zu finden. »Diese Freiheit fordert aber Entscheidungen. Manche werden depressiv, weil sie diese Entscheidung fürchten«, sagte Handerer. In den 2000er Jahren war die Jugendarbeitslosigkeit in Thüringen deutlich höher als heute.

Viele Kinder- und Jugendliche müssten zudem in psychiatrische Behandlung, weil ihre Eltern Aufputschmitteln nähmen. »Seit zwei bis drei Jahren haben wir verstärkt mit einer neuen Klientel zu tun: Mit alleinerziehenden Müttern, die ihren anstrengenden Familienalltag mit Hilfe von Chrystal Meth in den Griff zu bekommen versuchen.« Davon gebe es auch viele »in gut situierten Kreisen«, sagte er aus Erfahrung.

Kinder und Jugendliche, die psychosoziale Hilfe brauchten, kämen aus allen Schichten der Gesellschaft. »Bei uns liegt der Anteil der Betroffenen, die aus der Mittel- und Oberschicht kommen, bei insgesamt 30 Prozent. 70 Prozent kommen aus eher sozialen schwachen Verhältnisse«. Dieses Verhältnis sei in den vergangenen Jahren ziemlich konstant geblieben.

Der Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Klinikums Stadtroda, Michael Kroll, sagte, nach seiner Einschätzung sei auch die zunehmende Kinderarmut ein Grund für den Anstieg der Zahlen bei psychosozialer Hilfe. In vielen Familien befürchteten zudem Eltern, dass ihre Kinder nicht mehr am gesellschaftlichen Leben teilhaben könnten, wenn sie sich im Leben nicht ausreichend anstrengten. »Stichwort ›Statuspanik‹«, sagte Kroll. Das erzeuge Druck auf die jungen Menschen, dem manche nicht gewachsen seien.

Zudem spiegelt sich in dem Anstieg nach Meinung Krolls auch die hohe Zahl der zuletzt aufgenommenen Flüchtlinge wider. Neben der ambulanten Versorgung der Menschen seien teils auch kurzzeitige stationäre Aufenthalte nicht zu vermeiden. In der Regel würden die Patienten aber darauf dringen, schnell wieder aus einer Klinik entlassen zu werden. »Wenn sie dann noch nicht ausreichend stabil sind, kann dadurch bereits abgesehen werden, dass weitere Kriseninterventionen möglicherweise nicht zu vermeiden sind.« Flüchtlingshelfer betonen, dass gerade die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge auf ihrer Reise nach Europa oft traumatische Erlebnisse hatten und deshalb besondere Hilfen brauchen. dpa/nd

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