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Soziale Revolution in Göteborg?
Susanne Wixforth vom DGB im Gespräch über die Bedeutung der »Europäischen Säule sozialer Rechte«
Frau Wixforth, wird Europa ab Freitag sozialer sein?
Am Freitag besteht die letzte Chance, dass Europa sozialer werden kann. Die Proklamation der Staats- und Regierungschefs sowie der europäischen Institutionen ist zunächst eine Selbstbindung. Das ist nicht sehr viel für den einzelnen Bürger, aber es kann - und muss - durch politischen Druck mehr daraus werden.
Was passiert denn, wenn die »Europäische Säule sozialer Rechte« verkündet worden ist?
Mit dieser politischen Absichtserklärung steht das soziale Europa endlich wieder auf der politischen Tagesordnung. In den europäischen Verträgen ist das Ziel einer Konvergenz zwischen den Mitgliedstaaten und der sozialen Marktwirtschaft enthalten. Von beiden Zielen haben wir uns immer weiter entfernt. In diesem Sinne ist die Proklamation sehr wichtig, da sich alle Regierungsvertreter grundsätzlich darauf festlegen, gemeinsam daran arbeiten zu wollen.
Was fehlt, sind konkrete Details, eine Finanzierung und ein Aktionsplan, damit das auch für den Bürger spürbar wird. In diesen Punkten kritisieren wir die ESSR. Wir sind der Meinung, dass auf Basis von Artikel 153 der Verträge über die Arbeitsweise der EU, in dem es um Arbeitnehmerschutz und Mitbestimmung geht, viel mehr machbar ist. Aber der politische Wille hat bis jetzt gefehlt. Bis 1979 war er da, bis dahin gab es viele ambitionierte Richtlinien. Mit der Wahl Margaret Thatchers in Großbritannien hat sich das geändert. Dann kam ein neuer Impuls mit Jacques Delors, aber seit Ende der 90er Jahre hat die EU das vernachlässigt. Deswegen ist die Proklamation eine wichtige politische Rückbesinnung. Und es ist wirklich die letzte Chance, Europa zusammenzuhalten. Die ESSR muss aber rasch umgesetzt werden. Die europäischen Arbeitnehmer müssen umgehend konkret Verbesserungen in ihrem Alltag spüren.
Die Friedrich-Ebert-Stiftung schrieb im Sommer, dass die 20 Punkte, die die Kommission als »Europäische Säule sozialer Rechte« vorgelegt hat, im Grunde nichts weiter seien als eine »pointierte Zusammenfassung bereits geltender Prinzipien«. Stimmt das?
Richtig ist, dass wir bereits seit 2000 die Grundrechtecharta haben, und die 20 Punkte teilweise hinter bereits bestehende Rechte zurückfallen. Über das bisher Erreichte hinaus geht es dennoch, weil die Kommission sich daran bindet. Insofern: Ja, man kann die 20 Punkte der ESSR sowohl aus dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union als auch dem EU-Vertrag herauslesen, aber sie sind noch nie in dieser Form festgehalten worden.
Was ist denn aus Sicht des DGB das wesentliche Hindernis für ein soziales Europa?
Wesentliches Problem ist das extreme Ungleichgewicht zwischen der Wirtschaftsagenda und der Sozialagenda der EU. Seit der Wirtschaftskrise entwickeln sich die einzelnen Mitgliedstaaten immer weiter auseinander, insbesondere zu Lasten der Arbeitnehmer.
Nehmen wir die Einkommensunterschiede: In Bulgarien liegen die Mindesteinkommen bei 1,42 Euro pro Stunde, am oberen Ende liegt Luxemburg mit 11,8 Euro. Vor allem die osteuropäischen Mitgliedstaaten sehen es als Wettbewerbsvorteil an, dass ihre Arbeitnehmer so billig sind und haben zum Beispiel bei den Verhandlungen zur Reform der Entsenderichtlinie, deren Ziel gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort ist, blockiert.
Herrscht eigentlich Einigkeit bezüglich der Entsenderichtlinie und der »Europäischen Säule sozialer Rechte« unter den europäischen Gewerkschaften?
Die osteuropäischen Gewerkschaften haben sich ausdrücklich dazu bekannt und fordern ebenfalls, dass der Mindestlohn auf europäischer Ebene harmonisiert wird. Bei der Entsenderichtlinie waren interessanterweise die nordischen Gewerkschaften dagegen, und zwar mit der Begründung, dass bei ihnen das sozialpartnerschaftliche System extrem gut funktioniere, und sie da auf keinen Fall von europäischer Seite eine Beeinflussung wollen - aus Sorge vor Eingriffen in die gewerkschaftlichen Grundrechte.
Der Vorschlag für die ESSR wurde ja schon im April unterbreitet und der DGB hat seitdem nicht mit Kritik gespart. Haben Sie den Eindruck, dass etwas davon aufgenommen wurde?
Wir haben selbst Kritik eingefangen dafür, dass wir Kritik geübt haben, manche Politiker waren erst mal froh, dass es immerhin eine soziale Agenda gibt. Mein Eindruck ist: Im Europäischen Parlament standen die Türen offen. In der Kommission ist es ohnehin so, dass die immer offene Ohren haben, wenn man konkrete Vorschläge vorlegt. Das haben wir getan, aber es schlägt sich nicht direkt nieder in den 20 Punkten der ESSR. Beim Richtlinienvorschlag zur Work-Life-Balance allerdings haben unsere Argumente offensichtlich überzeugt.
Der französische Präsident Emmanuel Macron hat kürzlich umfangreiche Reformvorschläge für die EU unterbreitet. Diese schlossen auch einen einheitlichen Mindestlohn mit ein. Sehen Sie da Ansätze, um das, was jetzt mit der ESSR am Freitag begonnen werden soll, mit den Vorschlägen von Emmanuel Macron voranzutreiben?
Ja, das ist gut vorstellbar. Die Forderung nach einem europäischen Mindestlohn, konkret 60 Prozent des Medianeinkommens, ist Teil einer EGB-Resolution. Grundsätzlich stehen auch alle europäischen Gewerkschaften dahinter. Einzelne europäische Gewerkschaften, darunter der DGB, sorgen sich allerdings, dass in die Kollektiv- und Tarifrechte eingegriffen wird. Dennoch kann man sich eine Harmonisierung mit einem Schwellenwert durchaus vorstellen. Auch in Deutschland erreicht der Mindestlohn nicht 60 Prozent des Medianeinkommens, sondern liegt um einiges darunter.
Was sind aus Sicht des DGB nach dem Sozialgipfel die ersten wichtigen Schritte zu einer sozialeren EU?
Die riesigen Einkommensunterschiede sowohl innerhalb der Mitgliedstaaten als auch der Mitgliedstaaten untereinander müssen bekämpft werden. Zweitens brauchen wir eine neue Wirtschaftsregierung: Wir brauchen eine Fiskalunion. Das geht auch in Richtung von Macrons Vorschlägen. Man muss natürlich aufpassen bei der Idee eines EU-Finanzministers, da war Herr Schäuble ja sofort dabei, aber wir haben da ganz andere Vorstellungen als er. Wir unterstützen sicher keinen Sparminister. Drittens muss eine Investitionsinitiative gestartet werden: Wir brauchen öffentliche Investitionen in Infrastruktur. Wichtig ist dafür die Änderung des Stabilitätspakts. Es muss eine Lockerung geben, damit Investitionen überhaupt sinnvoll getätigt werden können.
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