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«Think Big»
Sicherheitsbehörden stellten auf BKA-Herbsttagung Wechsel auf sichere Zukunft aus - ohne die Kosten zu nennen
Ingelheim liegt am Rhein. Zwischen Mainz und Bingen. Hier verläuft der Jakobsweg. Auf dem pilgern alljährlich Zehntausende in Richtung des spanischen Santiago de Compostela. Dort ist das Ende Europas. Das geografische. Die Pilger treibt, so behauptet es ein Wegweiser vor der Stadt, «die Sehnsucht nach Freiheit - Freiheit in ihren Variationen».
Nicht eine kam auf der Herbsttagung des Bundeskriminalamts (BKA) in der vergangenen Woche zur Sprache. Der Begriff Freiheit fiel einfach nicht in der Ingelheimer Kultur- und Veranstaltungshalle. Da ging es um «Polizei im Umbruch - Herausforderungen und Zukunftsstrategien». Dennoch kam man nicht um die Tatsache herum: Immer mehr Bürger haben immer mehr Angst. Angst vor wachsendem Terrorismus, Angst vor der international organisierten Kriminalität, die auf brutale Weise immer mehr Operationsebenen erschließt und sich mit legalen Geschäftsfeldern mischt. Dabei sind Gangster erfolgreicher denn je. Was man von der Polizei nicht sagen kann.
Professor Armin Nassehi aus München, einer der Gastredner in Ingelheim, zitierte die Bibel. «Und der Engel sprach zu ihr: Fürchte dich nicht, Maria …» Das mit der Schwangerschaft, die Gott der armen Frau eingeredet hat, ließ er weg. Nassehi war es wichtig, darauf hinzuweisen, dass jemand, der jemandem versichert, er brauche sich nicht zu fürchten, damit vor allem klarmacht, dass es gute Gründe für Furcht gibt. So gesehen war das, was besprochen wurde, vergleichbar mit einem Beipackzettel aus Medikamentenschachteln: Die Pillen sind gut - doch es gibt so viele Nebenwirkungen. Um Angst zu mindern, sagen die Sicherheitsbehörden: Vertrau’ mir, Bürger!
Vertrauen? Was ist das? Nassehi definiert es als «Verzicht auf letztes Wissen». Nur so funktioniere moderner Alltag. Oder welcher Restaurantbesucher geht nach der Bestellung in die Küche, um zu sehen, ob der bestellte Fisch wirklich fangfrisch in die Pfanne kommt?
Vertrauen wir der Polizei wie dem Koch, wenn sie behauptet, uns zu schützen vor dem Islamischen Staat? Wie war das mit dem Berliner Weihnachtsmarktattentäter, der vor einem Jahr einen Lkw in Menschenmassen steuerte? Hatten die Sicherheitsbehörden ihn nicht schon längst als Gefährder ausgemacht - und doch gewähren lassen? Ja schon, gibt Holger Münch, der Präsident des Bundeskriminalamtes, zu. Doch wolle und werde man die richtigen Schlussfolgerungen daraus ziehen.
Angesichts internationaler Terrorismus-Netzwerke und grenzüberschreitender Kriminalität reiche eine bloße Weiterentwicklung bisheriger Methoden nicht mehr aus. Die Polizei müsse ganz neue Wege beschreiten. Früher sammelte jede Länderpolizei Daten und schüttete sie in zumeist länderspezifische «Töpfe». Nur wenn es offenkundig notwendig war, ließ der Sammler andere Sammler, die andere Datensammlungen füttern, reingucken. Jedes Bundesland habe eigene IT-Systeme für seine speziellen Bedürfnisse entwickelt. Das aktuelle zentrale INPOL-System, das sich die 19 Polizeien von Bund und Ländern teilen, stamme aus den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. «Wenn Sie so wollen, haben wir den Quantensprung noch nicht gemacht, argumentiert der BKA-Chef.
Den soll nun ein »Datenhaus für die Polizei« bringen. Gebaut wird es im Rahmen der Operation »Polizei 2020«. Es soll dabei helfen, kriminelle Muster früher und besser zu erkennen und damit schnellere Fahndungserfolge zu erzielen, sagte Münch und lockte Kritiker damit, dass man so Daten auch viel schneller löschen könne, wenn die Justiz entscheidet, dass ein Beschuldigter unschuldig ist.
Die Grenzen zwischen den 16 deutschen Ländern erweisen sich immer mehr als Hindernis bei der Verbrechensbekämpfung, echote es auf der BKA-Tagung. Während die Schleierfahndung in Bayern oder Baden-Württemberg erlaubt ist, dürfen Polizeibeamte in Bremen oder Nordrhein-Westfalen diese verdachtsunabhängigen Personenkontrollen nicht durchführen. »Der unterschiedliche Rechtsrahmen und die nicht einheitlichen Zuständigkeiten in den einzelnen Bundesländern sind eine große Herausforderung für die moderne Polizeiarbeit«, betonte Gerhard Klotter. Der Polizeichef aus Baden-Württemberg behauptete zwar, dass Polizeiarbeit Ländersache sei, doch zwischen Ressourcen-Wirklichkeit und gesellschaftlichem Anspruch klafften riesen Lücken. In Bayern sei die Polizei beispielsweise besser in der Lage, in technische Innovationen zur Verbrechensbekämpfung zu investieren als in Bremen.
Was tun? Auf Münch hören? Der sagt, man müsse »die Vorteile eines zentralen Systems mit denen des föderalen Systems kombinieren. Man brauche einheitliche Systeme, einheitliche Standards und einen einheitlichen Rechtsrahmen«. Das BKA habe schon jetzt gute Erfahrungen gemacht, wenn man die Landeskriminalämter beispielsweise an Ermittlungen gegen das sogenannte Darknet beteiligte. Die zu erreichende neue Qualität der Polizeiarbeit werde einiges kosten. Münch schlug daher einen gemeinsamen Investitionsfonds von Bund und Ländern vor.
Think Big, hatte Will van Gemert, der EUROPOL-Vizechef, den Zuhörern sogleich empfohlen. Was meint: Parallel zum Umbruch der Polizeiarbeit in Deutschland müsse man den Wandel im gesamten Schengenverbund vorantreiben. Demnächst werde man das bisherige Schengen-Informationssystem durch den Einsatz von biometrischen Vergleichssystemen vervollkommnen.
Oliver Malchow, Chef der größten Polizeigewerkschaft in Deutschland, der einen anderen Termin im Kalender hatte, meint: »Eine zentral geführte Sicherheitsbehörde ist keine Gewähr für eine bessere Kommunikation oder Einsatzleitung.« Er stützte seine Skepsis mit dem Verwies auf die terroristischen Anschläge in Paris. Er fordert mehr Ausbildung und mehr Ausrüstung. Die beginne bei geeigneten Helmen und Schutzwesten.
Die BKA-Tagung in der vergangenen Woche stellte Wechsel auf die Zukunft aus, ohne dabei Klartext über die dazu notwendige weitere Minderung bürgerlicher Grundrechte oder generelle Weiterungen im Bereich der Justiz anzusprechen. Die Versicherung, dass man mit den neuen Systemen Datenschutz auch ganz anders, viel differenzierter als bislang gewährleisten könne und dass man mit der Bundesdatenschutzbeauftragen im Gespräch sei, wird die vehementen Bedenken von Bürgerrechtlern kaum zerstreuen.
In Deutschland wird im Durchschnitt noch immer fast jeden Tag ein Anschlag auf eine Asylbewerberunterkunft verübt, sagte das BKA jüngst in einer hauseigenen Analyse. Insgesamt hat man in diesem Jahr bereits mehr Attacken gezählt als vor der sogenannten Flüchtlingskrise 2014. Damals wurden im Gesamtjahr 199 Fälle registriert. Allein in den ersten neun Monaten dieses Jahres hat man 211 solcher Angriffe gezählt. Nicht jedoch aufgeklärt. Die Hasskriminalität wächst über alle Grenzen hinaus, Rechtsextremisten agieren ungenierter denn je. Die Welle der Wohnungseinbrüche ebbt kaum ab. Zahlreiche Delikte der sogenannten Alltagskriminalität sind inzwischen so normal wie der morgendliche Sonnenaufgang. Demnächst werden wieder überall in Deutschland Weihnachtsmärkte öffnen. Das Tannengrün tarnt die aufgestellten Betonblöcke, die gegen Lkw-Attentate schützen sollen, nur ungenügend. Dahinter lebt weiter die Angst.
Und wie ist das nun mit dem Vertrauen in die Arbeit der Strafverfolgungsbehörden? Andreas May, ein Oberstaatsanwalt von der Zentralstelle für Internetkriminalität in Gießen, brachte das Problem kurz vor dem Ende der BKA-Herbsttagung vermutlich unfreiwillig auf den wenig schmeichelhaften Punkt: »Man traut uns nicht - aber dafür alles zu!«
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