G20-Deutungskampf im Gerichtsaal

Der 18-jährige Italiener Fabio V. sitzt seit mehr als vier Monaten in U-Haft - konkrete Vorwürfe gibt es nicht

  • Sebastian Bähr
  • Lesedauer: 5 Min.

Kurzzeitig sah es so aus, als ob der Italiener Fabio V. das Hamburger Jugendgefängnis auf der Elbinsel Hahnöfersand verlassen dürfe. Seine Mutter Jamila B. sowie die zahlreichen Unterstützer feierten Ende vergangener Woche, als das Amtsgericht den Haftbefehl gegen den 18-Jährigen aufhob. Mehr als vier Monate saß der Fabrikarbeiter aus dem norditalienischen Dorf Belluno da bereits in Untersuchungshaft, weil er am Rande einer umstrittenen Auseinandersetzung zwischen Demonstranten und Polizisten während der G20-Protesttage festgenommen worden war.

Die Freude der Mutter und Unterstützer währte jedoch nur kurz. Die Staatsanwaltschaft legte zügig Beschwerde gegen die Entscheidung des Amtsgerichts ein. Als der Einspruch vom Landesgericht abgelehnt wurde, zog die Staatsanwaltschaft vor das Hamburger Oberlandesgericht (OLG). »Dringender Tatverdacht und Fluchtgefahr«, erklärte man zur Begründung. Die Anwälte des Verdächtigen stellten daraufhin am Montag einen Befangenheitsantrag gegen die zuständige Kammer des OLG. Dieselben Richter hatten bereits zuvor eine Freilassung von V. verhindert. Bis zu einer Entscheidung muss der Italiener nun weiter in U-Haft bleiben.

Die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft beziehen sich auf eine gesprengte Demonstration: Am Morgen des 7. Juli bewegte sich eine Gruppe mit rund 200 Teilnehmern vom Hamburger Volkspark Richtung Innenstadt. In der Industriestraße »Rondenbarg« trafen die teilweise vermummten Aktivisten auf Polizeieinheiten. Die Beamten zerschlugen in wenigen Sekunden mit Wasserwerfern die Ansammlung, einzelne wenige Gegenstände flogen in Richtung Polizisten.

Das Ausmaß und der Verlauf der Auseinandersetzungen sind seitdem umstritten, ein kurzes Polizeivideo wird unterschiedlich gedeutet. Die Beamten selbst sprechen von »schwersten Ausschreitungen« und »massivem Bewurf«, einige Journalisten sehen keinen bis kaum Bewurf. Der Professor Rafael Behr der Akademie der Polizei Hamburg erklärte gegenüber der Sendung »Panorama«, dass auf dem Video nichts Überraschendes sei, »weder auf Polizei- noch auf Demonstrantenseite«.

Die Beamten nahmen 75 Personen fest, einige Aktivisten versuchten über ein Geländer zu flüchten. Dieses brach zusammen, 14 Personen mussten mit schweren Verletzungen im Krankenhaus behandelt werden. Auf dem Video sah man auch Aktivisten, die nicht wegrannten, unter ihnen soll Fabio V. sein. Laut Aussage seiner Mutter blieb er bei einer am Boden liegenden Frau, die einen Bruch erlitten habe.

Die Staatsanwaltschaft wirft V. als Teilnehmer dieser Demonstration schweren Landfriedensbruch, versuchte gefährliche Körperverletzung und tätlichen Angriff auf Beamte vor. Bisher konnte sich jedoch keiner der Zeugen an den Italiener erinnern, eine individuelle Tat wurde ihm nicht nachgewiesen. Der Verdächtige habe aber »psychische Beihilfe« für Steinewerfer geleistet.

Trotz der dünnen Beweislage fielen bereits im August die Richter vom Hamburger OLG mit markigen Worten auf. In der Begründung für die Untersuchungshaft erklärten sie, dass die Tatausführung von V. auf eine »erkennbar rücksichtslose und tief sitzende Gewaltbereitschaft« schließen lasse. Zudem könnte man bei dem - nicht vorbestraften - 18-Jährigen »erhebliche Anlage- und Erziehungsmängel feststellen«. Seine mutmaßliche Teilnahme an den »Ausschreitungen« zeuge von »schädlichen Neigungen« - ein Konstrukt, dass 1943 von den Nazis eingeführt wurde.

Obwohl die schweren Auseinandersetzungen im Schanzenviertel zum Zeitpunkt der Festnahme noch nicht stattgefunden hatten, erklärten die Richter zudem: »Der Beschuldigte hat die bürgerkriegs­ähnlichen Zustände mitverursacht«. Noch vor Beginn der Hauptverhandlung lautete so das Resümee: Die zu erwartende Freiheitsstrafe werde »nicht zur Bewährung ausgesetzt werden können«. Arne Timmermann, der Rechtsanwalt von Fabio V., kritisierte gegenüber »nd«: »Das Oberlandesgericht hatte der Amtsrichterin damit die Beweisführung vorweggegeben.«

Aus Sicht der Unterstützer von V. zeigte sich dann auch in dem Prozess, der Mitte Oktober begann, eine tendenziöse Verfahrensweise und die politische Motivation der Staatsanwaltschaft. Als beispielsweise in einer Aufnahme des Polizeivideos keine Steine auf dem Boden zu sehen waren, habe die Klägerin laut Beobachtern erklärt: »Aber die Straßenreinigung war da ja auch schon schnell da.« Eine im Internet verbreitete mehrsprachige Erklärung von V. war für sie zudem Beweis für eine angebliche internationale Vernetzung. Die Anwälte des Verdächtigen stellten gleich zu Beginn des Verfahrens einen Befangenheitsantrag gegen die Richterin – dieser wurde abgelehnt.

Der Fall des Italieners ist seit seinen Anfängen ein Politikum, in dem auch um die Deutungshoheit der G20-Proteste gekämpft wird. Die linksradikale Organisation »Interventionistische Linke« rief zu einer solidarischen Begleitung der Verhandlung von Fabio V. auf, mehrmals gab es Kundgebungen vor dem Gericht. Der Verdächtige selbst äußerte sich einzig in seiner politischen Erklärung. Darin hieß es: »Gewalt mag ich nicht. Aber ich habe Ideale und ich habe mich entschieden, für sie zu kämpfen.« Timmermann, der Anwalt von V., geht davon aus, dass auch die Staatsanwaltschaft in diesem Pilotverfahren »keine Schwäche zeigen will«. Eine Haltung, die mitunter Wut nach sich zieht: Vermummte hatten am Wochenende das Gebäude der Behörde mit Steinen und Farbbeuteln attackiert, auf der Straße davor wurden Reifen abgebrannt.

Mittlerweile kritisieren unter anderem die italienische Sektion von Amnesty International, das Grundrechtekomitee sowie die »Europäische Vereinigung von Juristinnen und Juristen für Demokratie und Menschenrechte« das Vorgehen im Falle von V. »Angesichts der skandalösen Begründungen von Fabios fortdauernder Untersuchungshaft könnte man meinen, er stände in Ankara und nicht in Hamburg vor Gericht«, erklärte zudem Ulla Jelpke, innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion, gegenüber »nd«. Die Repression solle aus ihrer Sicht vor allem abschreckend wirken. »Mit Rechtsstaatlichkeit hat das in meinen Augen nichts mehr zu tun, das ist vielmehr angewandtes Feindstrafrecht.«

Polizeivideo von G20 Einsatz am Rondenbarg
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