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- Jamaika ist gescheitert
Chance für den Parlamentarismus
Eine Minderheitsregierung böte der politischen Linken die Möglichkeit, sich in der Opposition zu reorganisieren, meint David Salomon
Die Jamaika-Koalition – oder, wie sie bei ihren Gegnern heißt: Schwampel – ist gescheitert. Die Bundesrepublik befindet sich buchstäblich über Nacht in einer veritablen Regierungskrise. Zu hören sind nun vor allem Schuldzuweisungen und staatstragende Appelle. Von »staatspolitischer Verantwortung« wird gesprochen, davon, dass es nun an der Zeit sei, im »Interesse des Landes« und nicht in parteipolitischem Interesse zu handeln. Der grüne Spitzenkandidat Cem Özdemir spricht gar von »Patriotismus«. Auch die FDP beschwört – mit ernsten Mienen – demokratiepolitische Grundsätze: Die Rede ist von unvereinbaren Prinzipien und mangelndem Vertrauen. Besser sei es, nicht zu regieren als falsch zu regieren. Auch wenn (nicht zuletzt aufgrund der Fernsehstatements von CSU-Politiker Alexander Dobrindt) der Sondierungsprozess mitunter wie seine eigene Karikatur wirkte, sollte man die Bedeutung seines Scheiterns nicht unterschätzen: In wochenlangen Verhandlungen bewies das bundesdeutsche Bürgertum sich und dem Politspektakelpublikum, dass es nicht in der Lage ist, seine verschiedenen Fraktionen in einer Regierung zusammenzuführen.
Möglich sind nun folgende Szenarien: Erstens könnte es dem Bundespräsidenten Frank Walter Steinmeier (SPD) gelingen, auf seine eigene Herkunftspartei hinreichend Druck auszuüben, so dass sie sich doch noch zu einer Großen Koalition bereitfindet. Dagegen freilich spricht nicht nur, dass die SPD dies bereits in der Wahlnacht – aus guten Gründen – ausgeschlossen hat, sondern auch, dass der Parteivorstand diese Position am Montag noch einmal ausdrücklich bekräftigte. Ohne einen eklatanten Gesichtsverlust und den Abbruch aller Erneuerungsrhetorik ist eine Rückkehr der Partei zum Status quo ante nicht möglich. Allerdings stellte Parteichef Martin Schulz in Aussicht, nach Neuwahlen keine Koalitionsoption auszuschließen.
Ob Neuwahlen, die zweite diskutierte Option, veränderte Mehrheitsverhältnisse zur Folge hätten, steht in den Sternen. Insbesondere für die CDU wäre ein solcher Schritt riskant. Schon jetzt beginnt eine Debatte um das Ende der Ära Merkel, die im Fall eines erneuten Wahlkampfes an Fahrt aufnehmen könnte. Auch wenn alle derzeit die Geschlossenheit der Union betonen, dürfte so manche christdemokratische Nachwuchskraft diese Diskussionen mit (klammheimlicher) Freude betrachten. Eine von unausgegorenen Nachfolgestreitigkeiten zerrissene Union dürfte es in einem kommenden Wiederholungswahlkampf schwer haben, ihr ohnedies schlechtes Ergebnis zu halten. So manches europäische Nachbarland hat in den vergangenen Jahren gezeigt, wie rasch ein etabliertes Parteiensystem kollabieren kann. Auch die Bundesrepublik ist vor einer solchen Entwicklung keineswegs sicher.
Die dritte Möglichkeit bestünde in einer Minderheitsregierung. Da ein stabiles Tolerierungsmodell unter den gegebenen Verhältnissen nicht eben wahrscheinlich ist, wäre eine solche Regierung auf wechselnde Mehrheiten angewiesen. Vermutlich liefe es in den meisten Fällen auf eine versteckte Große Koalition hinaus, einige Gesetzesentwürfe könnten jedoch auch im »Jamaika-Bündnis« beschlossen werden. Ob CDU/CSU und FDP bereit wären, etwa ein Gesetz zur Einführung von migrationspolitischen »Obergrenzen« mithilfe der AfD durch das Parlament zu boxen, bliebe abzuwarten. In jedem Fall würde eine Minderheitsregierung den Parlamentarismus stärken und jenen nun beinahe siebzig Jahre währenden Zustand beenden, in dem der Bundestag im Grunde nichts anderes ist als eine verlängerte Regierungsbank mit Rederecht für die Opposition.
Wie fern nicht nur viele Politikerinnen und Politker, sondern auch zahlreiche »Qualitätsjournalisten« und »Politikexperten« der Vorstellung eines lebendigen Parlamentarismus stehen, lässt sich derzeit in dutzenden Leitartikeln und Fernsehinterviews anschaulich beobachten: Eine Minderheitsregierung sei instabil, heißt es dort, der deutschen politischen Kultur fremd! Im Kern bliebe dann nur eine Alternative: SPD und CDU könnten bis zu ihrem – vielleicht dann gar nicht so fernen Exitus – als eingefrorene Konsensmaschine einen Status quo verwalten, der gleichermaßen postpolitisch wie postdemokratisch wäre. Eine Minderheitsregierung indes böte der SPD vielleicht wirklich Chancen zu einer politischen Erneuerung und der politischen Linken die Möglichkeit, sich in der Opposition zu reorganisieren.
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