»Was jetzt geschieht, geschieht uns«

»Das siebte Kreuz« von Anna Seghers am Schauspiel Frankfurt am Main

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Erst in seinem langweiligen Lauf erfüllt sich würdiges Leben. Oberste Staatsaufgabe ist es, den Menschen aus der Gefahr zu retten, Retter zu werden, Rebell, Revolutionär. Einzig eine Mäßigung der strukturellen Kräfte in einer Gesellschaft befreit den Einzelnen vom Unglück, sich im nötigen Widerstand gegen das Bestehende an eigener Courage verbrennen zu müssen. Dem ganz und gar Tapferen, der wahrlich mit Haut und Haar, Leib und Seele mutig ist - ihm wird später anerkennend bescheinigt, er habe sein Leben: aufs Spiel gesetzt. Spiel? Wenn die Haut fetzt, das Haar brennt, der Leib reißt, die Seele blutet?

Was bloß liefert uns immer wieder der Gewalt aus? Büchners Danton fällt einem ein: »Puppen sind wir, von unbekannten Gewalten am Draht gezogen; nichts, nichts wir selbst!, die Schwerter, mit denen Geister kämpfen - man sieht nur die Hände nicht, wie im Märchen.« Oder Shakespeares Gloster: »Was Fliegen sind/ Den müßigen Knaben, das sind wir den Göttern;/ Sie töten uns zum Spaß.« Vorsicht. Unbekannte Gewalten? Nein, das ist doch eher die Selbstschutzvokabel für eine ganz einfache Wahrheit: Wir haben weggeschaut. Götter? Rasch ist ein hehres Wort zur Stelle, um das Hausgemachte als Naturgewalt zu entschuldigen. Und jede Erzählung von Widerstand bleibt eine Saga von menschlicher Ausnahme und moralischem Sonderfall. Märtyrer hinterlassen keine Schule. Aber freilich auffallend viele nachträgliche Unschuldige.

»Das siebte Kreuz« von Anna Seghers erzählt solch eine Geschichte. 1942 erschien dieser Roman, er schildert die Flucht von sieben Häftlingen aus einem Konzentrationslager der Nazis. Schildert Jäger und Gejagte. Schon ist im Lager für jeden der Geflohenen ein Schuldkreuz errichtet. Eines der Kreuze aber wird leer bleiben. Anna Seghers folgt dem Weg des Kommunisten Georg Heisler, der nach Holland entkommt, aber zunächst durch ein Deutschland des Hasses und der Hilfe muss, der Kälte und des Kümmerns, des Dunkels und der lichten Dämmerungen, der Barbarei und der Brüderlichkeit. Christa Wolf schrieb: Da laufe einer um sein Leben und zwinge jeden, mit dem er in Berührung komme, »zu offenbaren, was er wert ist. Das ist so einfach, wie alle großen Erfindungen einfach sind. Es muss aber einer intensiv danach gesucht haben.«

Der neue Intendant am Schauspiel Frankfurt am Main, Anselm Weber, hat den Roman - in einer mit Sabine Reich erarbeiteten Fassung - auf die Bühne gebracht. Das klassische Stationendrama. Es ist vor allem der Abend des Schauspielers Max Simonischek. Durch die Beine eines Chores, der zu seinem Gegenspieler, zum Kommentator wird, kriecht er ins Freie, das ein gefährliches Unbehaustsein bleibt. Dieser Chor wirkt bisweilen wie jene Bedrohung, vor der keine liberale Ordnung gefeit ist: um des inneren Friedens willen nicht nach der Wahrheit zu fragen, sondern ganz formal nur nach der Mehrheit.

Die Bühne von Raimund Bauer ist leer; Straße und Universum, viel Raum für Angst und Druck; ein Gullydeckel wirkt wie ein Fingerzeig darauf, dass die Tiefe des Höllischen nie sehr weit weg ist. In großen Lettern werden die sieben Wochentage der Fluchtdauer an die Rückwand projiziert. Der eiserne Vorhang, halb herabgelassen: Was ist Öffnung, was Eingeschlossensein? Bass-Bariton Thesele Kemane singt Lieder aus Schuberts »Winterreise«. Dies Wehmutswunder. Trost und gleichermaßen ein trauriger Zufluchtsentzug.

Mehrfach hören wir zwei Sätze des Schäfers Ernst aus dem Roman: »Jetzt sind wir dran. Was jetzt geschieht, geschieht uns.« Ein Axthieb ins Bewusstsein. Wer mit diesem Befund im Kopf nach zwei Stunden das Theater verlässt, wird den Gedanken so schnell nicht wieder los, dass die Toten jung bleiben (wie es im Titel eines anderen Seghers-Romans heißt). Dass die Räume, in denen wir leben, zwar Wände haben, aber alle Zeiten doch da hindurchdringen, mit ihrem Atem, ihrem Vermächtnis, ihrem einzig verlässlichen Versprechen: Niemand bleibt verschont.

Der mitunter requiemdunklen Inszenierung Webers ist just dieser bedrängende Geist, dies Peinigende anzumerken. Schauspielerische Konzentration fasert an keinem Punkt ins ungestört Leichte auf. Der atemschwere Bericht dominiert das Drama. Dieser Regie geht es weniger um Handschrift, sie will die Inschrift. Ja: »Jetzt sind wir dran. Was jetzt geschieht, geschieht uns.« Das ist der Austritt des Lehrstoffes aus den alten Büchern, ist dessen Eintritt in unser zeitgenössisches Konfliktfeld. Zwischen uns Unschlüssigen, Überforderten, Gesättigten, Besänftigten steht dieser Lehrstoff aus allen Zeiten, und er schweigt uns die Wahrheit ins Gesicht: Alles ist schon erlitten, aber immer wird jedes Leiden neu geboren. Das Leiden und die Gegenwehr. Alle Geschichte gerann längst zur Lehre, doch stets ist Geschichte der Weg in die noch nicht gelebte Erfahrung.

Die Welt hat keinen Sinn, hat nie einen gehabt - und der freie Wille, ihr einen zu geben, hat dieser Welt den verheerenden Kampf Mensch gegen Mensch beschert. Ein Dauerkampf, in dem niemand sich zurücklehnen sollte: ich nicht! Noch einmal Christa Wolf, in »Glauben an Irdisches«, ihrem großen Seghers-Essay: Jedes Individuum müsse neu erlernen, was die Gesellschaft in Jahrtausenden als höchste, mühsamste, am meisten gefährdete Leistung hervorgebracht habe: Humanismus. »Er wird uns nicht angeboren.« Er ist eine Tätigkeit, die sich nicht von selbst versteht.

Hinten, vorm blau angeleuchteten Gitter, wo nur Notlampen Licht geben, stehen Bänke, dort ziehen sich die Schauspieler um für raschen, prägnanten Rollenwechsel. Der Chor: »Jetzt ist der Nebel gestiegen am Rhein.« Die Atmosphäre für Heislers rheinische Odyssee: Ein Jude verarztet, ein Kommunist gibt Auftrieb, die ehemalige Geliebte zeigt kalte Schulter. Simonischek als Heisler: Hoch aufgewachsen, er hetzt sich, wird gehetzt; er vibriert in Angst, erstarrt in Obacht, krümmt sich in Schmerz, findet aber auch Ruhe im solidarischen Erlebnis, das stärker wirkt als Verrat, Spitzelei, grober Egoismus und schmierige Feigheit.

Anna Seghers’ Roman ist Erinnerungsmaterial, er beschwört jene nicht zu tilgende Tiefenwirkung, die sich unbarmherzig einklagt. Als jenes fortdauernd Unbewältigte, als jenes bohrend Nachklingende, das wie in einem Brennglas alles Gleichzeitige der politischen deutschen Geschichte auf starke Weise zusammenführt: Es gibt keine isolierte Gegenwart, sondern nur die Zerrissenheit des »Ich war, ich bin, ich werde sein«. Diesem Georg Heisler helfen oder nicht? Dies ist die übertragbare Wahrheit - niemand entkommt dem Moment, in dem er begreift: Es ist noch etwas zu entscheiden, und ich bin es, der eine Entscheidung treffen muss.

Webers klare, deutliche, aufrichtig mahnende Inszenierung macht porös - und macht vielleicht bereit für fremde, bittende Augen, die dich im Wusel deines so täuschend friedlichen Alltags ansehen und sagen könnten: Jetzt, jetzt ist dieser Moment. Dann bist du dran. Was weltfern geschieht, es geschieht uns.

Nächste Vorstellungen: 24. und 25. November

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