Charlie Chaplin war begeistert
«Tsar to Lenin» - Die Wiederentdeckung eines einzigartigen US-Dokumentarfilms über die Russische Revolution
Der Film «Matilda» über den letzten russischen Zaren ist nicht das einzige kinematographische Produkt, das Boykottandrohungen erfuhr. Ähnliches ereignete sich 80 Jahre zuvor. Der von zwei US-Amerikanern produzierte Dokumentarstreifen «Tsar to Lenin» durfte 1937 in Stalins Sowjetunion nicht aufgeführt werden - weil er die exponierte Rolle von Leo Trotzki in der Russischen Revolution von 1917 und im Bürgerkrieg hervorhob. Aber auch in den USA verschwand er alsbald aus den Spielplänen der Kinos. Zunächst wohl, weil im Krieg gegen Hitlerdeutschland andere, patriotische Filme gefragt waren. In der Ära des Kommunistenjägers McCarthy war dann jede Hommage auf die Revolution, die zur Errichtung des ersten sozialistischen Staates der Welt führte, tabu.
Mit der stolzen Verkündung, dass auf einem Sechstel der Erde der Sozialismus gesiegt habe, beginnt der Film, der schon 1931 fertiggestellt war, aber wegen eines Zerwürfnisses zwischen dem Produzenten und dem Sprecher noch sechs Jahre auf Halde lag. Zum Bedauern von Max Eastman, der ihm die Stimme lieh. «Es gab ein starkes Interesse an der Revolution, das noch weitgehend unverfälscht war - noch nicht gesteuert und kontrolliert von den Geschichtsfälschern im Kreml», erinnert er sich später. In seinen Memoiren rekapituliert er zudem: «Im Spätherbst des Jahres 1928 besuchte mich ein junger Mann namens Herman Axelbank, ein überzeugender junger Mann. Er war breit gebaut und klein ... Und er besaß etwas, das für die Menschheit von großem Wert war: eine Sammlung aller - oder zumindest der meisten - wichtigen Filmaufnahmen von bedeutenden Ereignissen und Persönlichkeiten der Russischen Revolution.»
Axelbank, an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert in Nowo Konstantinow in der heutigen Ukraine geboren und 1909 in die USA ausgewandert, hat als 16-Jähriger beim berühmten Samuel Goldwyn das Filmhandwerk erlernt. Im Laufe eines Dezenniums sammelte er einmalige Dokumente aus Russlands turbulentester Zeit. Man sieht zunächst den Zaren mit seiner Familie feiern und Ball spielen, sodann den Herrscher mit männlichem Gefolge beim Nacktbaden und schließlich in Paradeuniform, umgegeben von geistlichen Würdenträger. Nikolaus II. bespritzt Soldaten mit Weihwasser, auf dass sie endlich siegen. Doch die denken nicht daran, sind des Krieges leid, ziehen ins verschneite Petrograd und fordern, unterstützt von Arbeitern, vor dem Winterpalais «Frieden, Brot und Land». Die Stimme des Sprechers klingt jetzt entschlossener, kräftiger und pathetischer. Den sarkastischen Kommentaren über das nutzlose autokratische Gesindel, die Romanows und die Höflinge, die Generäle, Kapitalisten und Großgrundbesitzer, «mit Ländereien so groß wie Connecticut oder Massachusetts», folgen nun emphatische und emphatische Hymnen auf die aufbegehrenden Massen und die Bolschewiki, die das Ausbeuterpack davonjagten. Sprecher Eastman weilte selbst ein Jahr (1923) in der Sowjetunion, hatte Trotzki kennengelernt, übersetzte dessen Werke, verfasste auch eine Biografie. Jahrzehnte später wandte er sich allerdings, ebenso Axelbank, vom Kommunismus ab. Den Film tangiert diese Wendung nicht. Er bleibt ein einzigartiges Zeitdokument, sehenswert noch und gerade heute.
Hier begegnet man allen: den führenden Vertretern der Sowjets, den Mitgliedern der Provisorischen Regierung und der ersten Garde der Bolschewiki. Lenin schwenkt die Mütze und ruft: «Alle Macht den Räten!» Kamenew wird «als sanfter Bolschewik» vorgestellt, der Bauernsohn Kalinin, der zum ersten Staatsoberhaupt der Sowjetunion avancierte, als Inkarnation des grundlegenden sozialen Wandels gefeiert. Stalin erscheint nicht, was seiner tatsächlichen marginalen Rolle 1917 geschuldet ist. Kerenski indes, der wie ein scheuer Bub in die Kamera blickt, wird als «Werkzeug der Kapitalisten» ausgemacht.
Der in den 1970er Jahren in die Vergessenheit geratene und von David North, Chefredakteur der World Socialist Web Site, wieder in die Öffentlichkeit gebrachte Film enthält zahlreiche seltene respektive noch nie gesehene Aufnahmen. Da versucht etwa die britische Suffragette Emmeline Pankhurst noch im Sommer 1917, das Frauenbataillon der russischen Armee zu ermuntern, den Krieg gegen Deutschland fortzuführen (ja, auch Frauenrechtlerinnen mutierten zu Kriegstreibern/Kriegsweibern). Eine Ahnung von der geballten feindlichen Umzingelung der jungen Sowjetrepublik vermitteln die Kriegsschiffe im Hafen von Wladiwostok und die Vielfalt der Uniformen, Abzeichen und Flaggen aller Herren Länder; Kommentator Eastman fühlt sich in eine Komische Oper versetzt. Zum Schluss kann er ein Happy End für die Bolschewiki verkünden. Es währte nicht lange.
Zu den ersten, die diesen Film sahen, gehörte übrigens Charlie Chaplin. The Tramp war begeistert.
Tsar to Lenin«, Mehring Verlag, DVD, 63 Minuten, 18,95 €.
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