Der Kommissar geht um

Gerhard Roth »Die Irrfahrt des Michael Aldrian«

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.

Von Gunnar Decker

Es beginnt furios: Da wird jemand aus seinem Leben geschleudert - und landet in Venedig. Michael Aldrian war fünfundzwanzig Jahre Maestro Suggeritore an der Wiener Staatsoper, die ihm hell erleuchtet wie ein »urzeitliches Raumschiff« vorkommt. Simpel ausgedrückt: Er war ein Souffleur, aber der simple Ausdruck ist seine Sache nicht, jedenfalls nicht dann, wenn es um ihn selbst geht.

Als großer, unabkömmlicher Zauberer rettete er »aus der Staubkornperspektive« Sänger mit Gedächtnislücken, bügelte verpatzte Einsätze aus. Ein letzter Rettungsanker für die auf der Bühne Ausgesetzten. Doch er selbst blieb unsichtbar. Seine Existenz kommt ihm nun vor wie ein »Insektenleben«. Kurzum: »In der Staatsoper hatte ihm die Abdeckung des Souffleurkastens wie ein riesiger Helm Schutz geboten.« Aber der war offensichtlich aus dem gleichen imaginären Stoff wie die Opern, die er alle im Kopf hatte. Denn als er einen Hörsturz erlitt, legte man ihm nahe, sich eine andere Arbeit zu suchen. So sachlich, so kühl. Bis eben ein heimlicher König in seinem Souffleurkasten - und nun? »Und jetzt hatte man ihn wie das kaputte Schräubchen einer riesigen Maschine gegen ein Ersatzteil ausgetauscht.« Gerhard Roth beginnt seine »Irrfahrt des Michael Aldrian« dann auch mit dem unheilvollen Satz: »Ich war ein Wunderkind, jetzt bin ich ein Niemand ...«

Roth ist ein Autor, der sich lange Wege zutraut. So schloss der 1942 in Graz Geborene 1991 seinen siebenbändigen (!) Zyklus »Die Archive des Schweigens« ab, dem folgte der Zyklus »Orkus«. Natürlich, auch »Die Irrfahrt des Michael Aldrian« ist als Auftakt einer Venedig-Trilogie geplant. Ein aus seinem Souffleurkasten geschleudertes einstiges musikalisches Wunderkind, dessen Gehirn alle Noten speichert, die sein Ohr je hörte! Doch diese übergroße Gabe musste er damit bezahlen, dass er zu etwas Eigenem unbegabt schien, ein unschöpferischer Opernkenner war er, so viel, aber eben auch nicht mehr.

Nun also fährt er zu seinem Bruder nach Venedig, auch dieser ein ehemaliges Wunderkind, ein Maler, der früh als perfekter Kopist auffiel, aber nie ein eigenes Werk schuf - nun führt er in Venedig einen Laden mit dem alle hochfliegenden Ambitionen schändenden Namen »Jurassic Park«, in dem es Perlen aus China, Karten und Kuriositäten aller Art zu kaufen gibt. Im Haus des Bruders besitzt der aus dem Souffleurkasten Entlassene eine »Garconnière«, simpel gesagt: eine kleine Dachwohnung.

So also beginnt die Venedig-Irrfahrt des Michael Aldrian in einem Februar mitten im Karneval von Venedig (eine Erfindung der Tourismusindustrie). Wie ein gefallener Engel taucht er ein in die Dämonien einer nebligen Stadt, in der zudem aqua alta (Hochwasser) herrscht. Mit all den Opern im Kopf, die Kränkung über seinen Rauswurf im Nacken, kommt er hierher, um einen »unkonventionellen Reiseführer« zu schreiben. Von Wien aus hat er bereits Vorkehrungen getroffen, seinen Besuch im Staatsarchiv und im ehemaligen Irrenhaus auf der Insel San Servolo angemeldet, die Pest interessiert ihn und die Friedhöfe. Und natürlich hasst er die Touristen, vor allem jene, »die sich auf der Suche nach Romantik mit Gondeln durch die Kanäle fahren ließen«.

Venedig als »Zeitkapsel« und »Atlantis« zugleich, durch die der gehörgeschädigte Souffleur aus Wien nun auf der Suche nach sich selbst flaniert, das ist ein Einstieg, der Lust auf die kommenden knapp fünfhundert Seiten des ersten Teil von Roths Trilogie macht. Doch dann passiert etwas Unvermutetes: Roth scheint unsicher zu sein, ob die Souffleursgeschichte eine ganze Trilogie trägt. Leider erliegt er der Versuchung, die wunderbar melancholische Atmosphäre des Beginns mit einer zweiten Ebene, einer grellen Kriminalhandlung, aufzupeppen. Auch eine Liebesgeschichte muss her, und so wird der philosophische Roman, der es hätte werden können, mehr und mehr zu einem Genre-Produkt à la Donna Leon.

Der Souffleur bekommt es mit einer Art Soufflee zu tun, das Roth dem fernsehtrainierten Tod-in-Venedig-Publikum anbietet. Mit Falco gesprochen: Der Kommissar geht um! Das ist schade, denn Gerhard Roth ist nicht nur ein genauer Beobachter dieser auch ohne Mord unheimlichen Stadt, die einst ein mächtiger Staat war, er kann mit diesen Beobachtungen etwas ganz eigenes anfangen, erzählt so unter der Hand die Geschichte Venedigs, die Michael Aldrian hatte schreiben wollen. Bilder von Jacopo Tintoretto und Vittore Carpaccio tauchen auf, geben der Szenerie etwas eigentümlich Surreales. Aber als Aldrian in Venedig ankommt, ist er mit einem schnöden Fakt konfrontiert: Sein Bruder und dessen Frau sind verschwunden - und sie bleiben verschwunden. Die Polizei weiß nichts, manche flüstern etwas von der Mafia, aber welcher?

Dann wird Aldrian, nachdem er sich im »Caffè Florian« vorsätzlich betrunken hat, bewusstlos geschlagen, vermutlich eine Warnung. Er soll endlich verschwinden. Ein Kommissar tritt auf, ein gefährlicher Fischgroßhändler, falsche Freunde und eine Geliebte namens Beatrice, von der man nicht weiß, mit wem sie es eigentlich so treibt. Und nun kommen die Klischees - und sie bleiben bis zum Schluss. So etwa kenne ich niemanden, der sich im von Roth detailliert beschriebenen »Florian«, dieser weltberühmten Touristenfalle, je betrunken hätte, dazu müsste er ein ungewöhnlich dickes Portemonnaie und sehr schlechten Geschmack haben - und Aldrian, der ja streng genommen arbeitslos ist, trifft sich dort sogar mit Venezianern, um »zu frühstücken«. Das mag man in Wiener Kaffeehäusern so machen, aber doch nicht in Venedig! Man muss es Roth an dieser Stelle einmal sagen: Venedig gehört nicht mehr zu Österreich, es gehörte auch nie wirklich dazu.

So bleibt die Lektüre der Irrfahrt des Michael Aldrian eine zwiespältige Sache. Immer wieder droht das, was an Inkommensurablem (um einmal Roths Vorliebe für ungewöhnlich klangvolle Worte aufzunehmen) in der Geschichte steckt, also die Musik der Stadt aus der Souffleurkastenperspektive eines Hörsturzgeschädigten, im vorsätzlichen konstruierten »Plot« der Erzählung zu versinken. Zwei einander fremde Bücher konkurrieren hier in einem miteinander. Die Beschreibung des Fischmarktes gegenüber dem Ca d’Oro etwa hat einen Zug in die geschärfte Wahrnehmung, die diesem Buch stellenweise etwas Suggestives gibt. Allerdings scheint schlussendlich dann einer jener Korrektoren am Werk gewesen zu sein, die man als Autor allen Grund hat zu fürchten, weil sie mittels abstraktem Regelwerk jedes Sprachgefühl für nichtig erklären. So heißt es im Buch nicht »der Vaporetto«, sondern »das Vaporetto«, was wahrlich in den Ohren schmerzt, ebenso, wenn Aldrian im Kühlschrank nach dem Grappa sucht und man lesen muss, er »suchte nach einer Grappa«. Klingt volltrunken. Nebenbei bemerkt, gehört Grappa nicht in den Kühlschrank.

Immer wieder begegnet Adrian auf seinen Wegen durch Venedig Menschen, die ihre Karnevalsmasken bei sich tragen. Auch daraus ergeben sich ungewöhnliche Spielmöglichkeiten, etwa wenn Roth über die winterliche Stadt schreibt: »Im Vaporetto kam es Aldrian vor, als befände er sich in einer Venedigschneekugel, die zuvor geschüttelt worden war, so dass weiße Pünktchen auf das Schiff fielen, in welchem er den Canal Grande zum Markusplatz hinunterfuhr.« Das sind dann Bilder (sie tauchen immer wieder an unerwarteten Stellen auf), wegen denen es sich dennoch lohnt - trotz multiplem Mord und Mafia - diese »Irrfahrt des Micheal Aldrian« zu lesen.

Da droht jemand verloren zu gehen und das, was dagegen immer half, die Musik, ist ferngerückt, kaum noch zu hören. Das ist eigentlich Stoff für Tragödie wie Komödie genug.

Gerhard Roth: Die Irrfahrt des Michael Aldrian. Roman. S. Fischer, 490 S., 25 €

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