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Nur die Kleinsten können uns retten

Zehn Kinder und eine Fehlbesetzung: »Parole Kästner!« von Jan-Christoph Gockel am Staatsschauspiel Dresden

  • Christian Baron
  • Lesedauer: 5 Min.

Hinter seiner geschlossenen Küchentür soll häufiger mal ein Kratzen zu hören gewesen sein. Wenn Erich Kästner öffnete, dann stolzierte demnach eine ob des versperrten Durchgangs pikierte Katze herein. So beschreibt es der berühmte Autor in dem Buch »Meine Katzen« mit Briefen, Gedichten und Fotos über all die Vierbeiner, mit denen er im Laufe der Jahre sein Dasein teilte. Am augenfälligsten war Butschi. Der Kater brachte im Herbst seines Lebens acht Kilo auf die Waage. Es gibt ein Bild aus den sechziger Jahren, da sieht Kästner glücklich in die Kamera, während Butschi in seinen Armen thront.

Nichts von dieser in nur einem einzigen Porträt perfekt aufleuchtenden Empathie des Literaten ist im Staatsschauspiel Dresden zu sehen. Dabei will die Uraufführung »Parole Kästner!« von Jan-Christoph Gockel nicht einfach nur das Werk, sondern auch die Biografie und den Charakter des weltbekannten Sohns der sächsischen Stadt erkunden. 1899 kam Kästner in Dresden zur Welt, lebte als Einzelkind mit seinen Eltern in der Königsbrücker Straße, unweit der heutigen Nebenspielstätte des Theaters.

Für einen Job als Feuilletonredakteur einer Tageszeitung zog er nach Leipzig. Wegen eines erotischen Gedichts flog er dort 1927 raus und ging nach Berlin, wo er zum Schriftsteller wurde und seine produktivste Phase erlebte. Die letzten Jahre verbrachte Kästner in München, wo er 1974 starb. Besonders zur Mutter Ida, die ihren Erich als Lebensprojekt verstand, entwickelte er früh ein inniges Verhältnis. Ihr zuliebe wäre Kästner beinahe Lehrer geworden.

Daraus wurde nichts, weil ihm das Schulmeisterliche, das Besserwisserische und das Autoritäre zuwider waren. Bei Jan-Christoph Gockel, der bei seinem Stück gleich selbst als Regisseur fungiert, scheucht Hauptdarsteller Matthias Reichwald als Erich Kästner fast zwei Stunden lang Kinder im Alter von neun bis 13 Jahren wie ein Zampano über die Bühne. Seine Figur zeigt im Umgang mit sich selbst und mit dem Nachwuchs drei Eigenschaften: Sie ist schulmeisterlich, besserwisserisch und autoritär.

Einer der bekanntesten Sätze Kästners lautet: »Keiner blickt dir hinter das Gesicht.« Reichwald versucht leider überhaupt nicht, wie es für solch ein Projekt nötig gewesen wäre, diesen Spruch zu widerlegen. Wie eine vom Weltschmerz in den Zynismus getriebene Heulsuse rattert er den Text herunter, ohne seiner Rolle nahezukommen. Sein Spiel steht in einem eigenartigen Kontrast zu den vielen Originaltexten, die Kästners auf liebevolle Art spöttischen Sound und die melancholische Perspektive vieler seiner Werke zum Ausdruck bringen.

Ohne jede Handlung wirft diese Revue ein Schlaglicht nach dem anderen auf den Dichter, und die zehn Kinder bilden das Personal- und Objekttableau um Kästner herum. Mal spielen sie die Eltern, wie sie unterm Weihnachtsbaum um die Liebe des Kindes wetteifern; mal verkleiden sie sich als mit Kästner über Heimat und Kultur debattierende Dresdener Bauwerke; mal fahren sie in Panzern vor und symbolisieren jenes »Land, wo die Kanonen blühn«, in dem Erich Kästner zwischen 1933 und 1945 blieb, obwohl seine Werke den Bücherverbrennungen zum Opfer fielen und ihm durch das Regime ein Veröffentlichungsverbot auferlegt wurde.

Da entstehen immer wieder starke Bilder. Sie deuten an, dass Kästner in seiner politischen Bedeutung gemeinhin unterschätzt wird. Sein »Fabian« ist der beste Gesellschaftsroman zur Weimarer Republik, auch die gegen Militarismus und Kapitalismus gerichtete Schärfe seiner Lyrik offenbart, dass dieser Mann mehr war als jener harmlose Märchenonkel für Kinder, auf den ihn ganze Lehrergenerationen reduziert haben.

Weil die Inszenierung sich nicht entscheiden kann, worauf sie eigentlich hinauswill, bleibt Kästner trotz aller Schauspielschnipsel dann doch ein Pappkamerad. Warum er dem Nazi-Terror nicht entflohen ist, das bleibt völlig offen. Auch sein Verhältnis zu Frauen wirkt verfälscht dargestellt. Mit keinem Wort kommt Luiselotte Enderle vor, mit der er jahrelang in offener Beziehung zusammenlebte und der er so viel verdankte. Eine kleine Tanzfiebersequenz präsentiert Kästner als Gigolo, dem die Gefühle seiner vielen Frauen am Allerwertesten vorbeigehen. Wer es nicht besser weiß, der muss Erich Kästner nach diesem Theaterabend für eine misogyne Mischung aus Thomas Bernhard und Harvey Weinstein halten.

Kaum vorstellbar, dass Jan-Christoph Gockel mit seiner Arbeit diese Aussageabsicht verbindet. Weniger Vollständigkeitseifer wäre der Erkenntnis förderlicher gewesen. Das heißt: Eine stringente Handlung hätte dem Spiel gutgetan. Es ist aber eben das Drama des postmodernen Theaters, dass es das Drama für überflüssig hält. Das ist eine Konzeption, die ebenso oft glückt, wie sie scheitert. Im Fall von »Parole Kästner!« trifft beides zu, weil Gockels Zugriff an einer Stelle nicht anders als grundlegend grandios zu nennen ist.

Die Entscheidung, außer Reichwald alle Rollen mit Kindern zu besetzen, erweist sich als Volltreffer. Sie spielen erstaunlich souverän und sorgen beim Figurieren zentraler Momente im Leben des Erich Kästner für jene tragische Komik, ohne die dieser Mensch nicht zu verstehen wäre. Kinderbuchautor ist Kästner nicht etwa geworden, weil er didaktische Ambitionen hegte. Gerade die finale Szene zum Spätwerk »Konferenz der Tiere« zeigt, dass er auf der Zielgeraden seines Lebens nur noch den Kleinsten zutraute, die Welt zu retten. Damit wird »Parole Kästner!« ihm doch noch halbwegs gerecht, diesem Tiere und Kinder mehr als jeden Erwachsenen bewundernden Erich Kästner.

Nächste Vorstellungen: 5., 17. Dezember

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