Tanz auf Leben und Tod

Das Nederlands Dans Theater gastiert im Haus der Berliner Festpiele

  • Karin Schmidt-Feister
  • Lesedauer: 3 Min.

Tanz bringt Bewegung in die Stadt. Mit 36 Bühnen, 300 Choreographinnen und Choreographen, 3000 Tänzerinnen und Tänzern sowie 1400 Vorstellungen im Jahr bietet Berlin eine einzigartige, spannende und vielfältige Tanzlandschaft. Mit dem Nederlands Dans Theater aus Den Haag gastiert derzeit eine der innovativsten internationalen Kompanien für zeitgenössischen Tanz im Haus der Berliner Festspiele.

Marco Goeckes Kreationen sind seit 2013 stilbestimmend für das Repertoire dieses Ensembles. Auch in »Woke up blind« (2016) ist seine Bewegungshandschrift sofort erkennbar. Das formidable Septett vermag es in extremer Beschleunigung und in kleinsten Gesten der Ruhe, jenes intendierte Erschrecken vor der eigenen Blindheit und die aufflackernde Gewissheit der Zusammengehörigkeit zweier Menschen durch alle Labyrinthe aufleben zu lassen. Doch bei aller tänzerischen Akkuratesse verliert das tänzerische Geschehen an Spannung. Wirbelnde Arme, eruptive Twists, wölfisches Knurren, vibrierende Gliedmaßen und abrupte Stagnation verbinden sich nicht mit den Gitarren- und Vokalsteigerungen von Jeff Buckley. Die Beweggründe bleiben im Dunkel.

Gerade wurde die Choreographie »Betroffenheit« der Kanadierin Crystal Pite mit dem begehrten britischen Laurence-Olivier-Award für die »Beste neue Tanzproduktion 2017« ausgezeichnet. Die 1970 geborene Künstlerin ist dem Nederlands Dans Theater seit 2008 als Assoziierte Choreographin verbunden. Ihr innovatives »Statement« (2016, Deutsche Erstaufführung) thematisiert ein Meeting mit zwei Parteien auf Leben und Tod. Leitmotivisch begleitet ein vierstimmiger Text (Skript: Jonathon Young) in gestisch präziser Stimmaufnahme den hochartistischen Überlebenskampf von vier Managern, die sich im Fallen, Rollen, Drehen und Treten um eine Tischplatte in eleganter Raubtiermanier auspowern, sich unter Aufbietung aller Kräfte gegeneinander über den Tisch ziehen und gnadenlos wegbeißen. Treffsicher übersetzt Crystal Pite den Text simultan in Bewegungssprache. Das Timing der kongenialen Interpreten erzeugt neunzehn Minuten Hochspannung bis zum Ende.

Die Zuschauer quittierten die bekannten Praktiken der bitteren Satire auf die Unmoral menschlichen Handelns mit verstehendem Lachen. Pites messerscharfe Aussage zielt kritisch auf die heutige Arbeitswelt; unverkennbare Genauigkeit und bewusste Überzeichnung erinnern an die Schwarzen Herren in Kurt Jooss’ expressionistischem Totentanz »Der Grüne Tisch« (1932).

Einen schrägen Blick in eine Puppenstube mit merkwürdiger Personage offeriert »The missing door« (2013, Deutsche Erstaufführung) der spanischen Choreographin Gabriela Carrizo. Ein Sterbender mit blutigen Händen wird von den Traumata seines Lebens verfolgt. Im Spieluhrwalzer missglücken Umarmungen und Küsse, Türen schließen und öffnen sich von Geisterbein, der Wischlappen führt ein Eigenleben, Sexpuppenspiele und bürgerliche Biederkeit werden aufgerufen. Carrizos Debüt beim Nederlands Dans Theater ist ein amüsant harmloser Slapstick-Thriller bis in die Verbeugungsordnung.

Die Spanierin Sol León und der Brite Paul Lightfoot wurden 2002 zu Hauschoreographen der niederländischen Kompanie ernannt. Ihr Tanzstück »Safe as Houses« (2001) zu Kompositionen von Johann Sebastian Bach stand am Beginn ihrer künstlerischen Zusammenarbeit. Es erschließt sich behutsam, Schritt für Schritt. Ganz in Schwarz treten Marne van Opstal, Sarah Rynolds und Jorge Nozal ins weiße Bühnengeviert. Ihre Reverenz gilt der Musik, die raumgreifend eine große weiße Wand im Zentrum zum Rotieren bringt. Vier Tänzer und vier Tänzerinnen in Weiß erobern in Soli und Duetten vor, zwischen und neben der sich permanent drehenden Wand die Bühne des Lebens. Der sich wandelnde Raum ist der gewaltige Gegenpart für einen physischen Hochleistungsparcours lebensfroher Bewegungsekstase. Es gibt keinen Stillstand. Jorge Nozal presst seinen Körper gegen die Wand-»Uhr«, die Stimmen der Vergangenheit verschwinden. »Komm, süßer Tod« - seine Hand verschließt den Mund, traumverloren, schwerelos umfängt sich das schwarze Paar im Schwebezustand zwischen Leben und Tod.

Kraftvoll, mitreißend, präzise - das renommierte Nederlands Dans Theater wurde in Berlin erneut begeistert gefeiert.

Vorstellungen bis zum 2. Dezember im Haus der Berliner Festspiele, Schaperstraße 24, Wilmersdorf

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