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»Ein Schluck aus der Lebenspulle«

Duisburger Stahlkocher hielten 1987 die BRD in Atem. Ein Besuch, 30 Jahre später.

  • Nelli Tügel
  • Lesedauer: 10 Min.

In der Duisburger Bahnhofsbuchhandlung steht es auch: Didier Eribons Buch »Rückkehr nach Reims«, jener Überraschungsbestseller, der die deutschen Feuilletons dazu inspirierte, sich verwundert die Augen reibend zu fragen, was eigentlich aus der Arbeiterklasse geworden ist.

Das ist eine Frage, die wohl nirgendwo in Deutschland so hohe Relevanz hat wie im Ruhrgebiet. 5,2 Millionen Menschen leben hier auf 4435 km² Fläche in 53 Städten und Gemeinden. Prägend war das gesamte 20. Jahrhundert die Montanindustrie. Heute sind es vielerorts Armut und Arbeitslosigkeit. Gelsenkirchen - einst stolzes Zentrum des Kohlebergbaus - ist die ärmste Gemeinde Deutschlands. Duisburg folgt auf dem dritten Platz mit im Schnitt 16 826 Euro jährlichem Einkommen. 2018 wird die letzte Steinkohle-Zeche des Potts schließen. Und die Arbeitsplätze in der Stahlindustrie sind dramatisch zurückgegangen. Die Arbeitslosigkeit ist höher als im Bundesdurchschnitt.

Dass es so weit kommt, haben viele zu verhindern versucht. Besonders sichtbar wurde das, als vor 30 Jahren - im Winter 1987/88 - der Duisburger Stadtteil Rheinhausen Schauplatz des letzten großen Arbeitskampfes der alten Bundesrepublik war.

Begonnen hatte dieser Kampf mit der Ankündigung, das Krupp-Werk in Rheinhausen solle in wenigen Monaten geschlossen werden. Am 26. November 1987 verbreitete sich die Nachricht wie ein Lauffeuer. Betroffen waren mehr als 6000 Arbeitsplätze. Am darauffolgenden Tag, dem 27. November, wurden die Gerüchte offiziell, als der damalige Vorstandsvorsitzende der Firma (und heutige Siemens-Manager) Gerhard Cromme die Pläne bestätigte. Die Stahlkocher legten daraufhin die Produktion spontan still und die ersten Demonstrationen zogen durchs Revier. Ein Anblick, an den sich Duisburg bald gewöhnen sollte.

Denn die Schließungspläne brachten 160 Tage lang Zehntausende auf den Plan. Erst Rheinhausen, dann Duisburg und der Pott nahmen Anteil am Kampf der Stahlkocher um ihre Arbeitsplätze. Quer durch Politik, Kirche, Gewerkschaften und Bevölkerung solidarisierten sich Menschen: Biker des Ruhrpotts machten Soli-Motorradkorsos, Fraueninitiativen schossen wie Pilze aus dem Boden, internationale Gäste gingen im Werk, dessen Mensa zum Tagungsort eines Bürgerkomitees umfunktioniert wurde, ein und aus; der Papst schickte eine lange Grußbotschaft. 12 000 Schüler ließen den Unterricht sausen, um für die Stahlkocher zu demonstrieren. Götz George drehte den Schimanski-Tatort »Der Pott« zum Arbeitskampf, Popbands spielten beim »Aufruhr«-Festival; die noch jungen Grünen waren ebenso vor Ort wie alle möglichen radikal-linken Gruppen. Selten hatte es in der Bundesrepublik eine so sichtbare, aktive Solidarisierung mit einem Arbeitskampf gegeben. Für jede einzelne Woche der Auseinandersetzung wurde ein Aktionsplan ausgegeben, der diese durchorganisierte wie ein Großevent. Und das war es im Grunde auch.

»Auge um Auge, Zahn um Zahn«

An einem Mittwoch im Frühjahr 2017 ist das Stadtarchiv Duisburg gut besucht. Vor allem Rentner scheinen hier ihre Zeit zu verbringen. Womit eigentlich? Mit Ahnenforschung, sagt einer, »Stadtgeschichte« ein anderer. Ob er sich auch für die jüngere Geschichte interessiere, den Kampf um das Stahlwerk zum Beispiel. »Kindchen, dafür muss ich doch nicht hierher kommen.« Was damals passiert ist, wisse er noch, als sei es gestern gewesen, meint er lachend. Das habe er alles »hier drin«. Und er tippt sich an den Kopf.

Noch verbreiteter ist dieses Erinnerungsphänomen in Rheinhausen selbst, das zwar seit der Eingemeindung 1974 zu Duisburg gehört, aber immer noch wie eine eigene Stadt tickt. Ganz egal, wen man hier anspricht, jeder weiß etwas von »damals«, selbst die Jüngeren. Zum 30. Jubiläum des Arbeitskampfes planen die Schulen eine Projektwoche; ehemalige Stahlkocher schwelgen in einer eigens dafür eingerichteten Facebookgruppe in Erinnerungen und eine Ausstellung will »diese Geschehnisse unserer Jugend erhalten, ihr nahe bringen und darüber nachdenken, was wir aus den damaligen Geschehnissen gelernt haben«.

Auch im Stadtbild hat der Arbeitskampf Spuren hinterlassen. Am deutlichsten sicherlich an der Rheinbrücke, die Rheinhausen mit Duisburg verbindet und die am 20. Januar 1988 von 50 000 Stahlkochern aus der Region in einem symbolischen Akt in »Brücke der Solidarität« umgetauft wurde. Der Name wurde später von der Stadt übernommen.

Ein anderes Datum, an das sich hier viele erinnern, ist der 30. November: die außerordentliche Betriebsversammlung kurz nach Bekanntwerden der Schließungspläne, die mitentscheidend dafür war, dass alles so kam, wie es kam. 10 000 Menschen nahmen teil, fast doppelt so viele, wie in dem Werk beschäftigt waren. An diesem Tag wurde der damalige Krupp-Betriebsleiter Helmut Laakmann berühmt. Laakmann hielt - in Stahlarbeiterkluft - eine Brandrede, die abends über die »Tagesschau« in die Wohnzimmer der Bundesbürger flimmerte und die in Duisburg heute noch bekannt ist als »Auge um Auge, Zahn um Zahn«-Rede. Das Buch der Geschichte sei aufgeschlagen, »und jetzt liegt es an euch, hier mal ein paar neue Seiten zu schreiben«, rief Laakmann damals seinen Kollegen zu. Es heiße nun »Auge um Auge und Zahn um Zahn«.

30 Jahre später erzählt der heute 69-jährige Laakmann, wie es zu der Rede - die gemeinhin als Initialzündung des Arbeitskampfes gilt - gekommen war: »Das war eine furchtbare Stimmung auf der Veranstaltung. Cromme wurde mit Eiern beworfen, die Politiker machten Wahlkampf oder hielten Trauerreden, der Vertreter der IG Metall flüsterte ins Mikrofon. Ich habe dann irgendwann gesagt, das geht so nicht und mich bei der Bühne gemeldet, dass ich auch etwas sagen will.«

Wenn Laakmann heute auf den Rheinhausener Markt geht, wird er immer noch darauf angesprochen. Die Erfahrung, die die Rheinhausener gemacht haben, wirke, so Laakmann, bis heute nach: »Das war ein Lehrstück in Solidarität. Wie ein Schluck aus einer Lebenspulle.« Er sieht die Beschäftigten als die Gewinner, obgleich das Werk am Ende doch dicht gemacht wurde. »Wenn behauptet wird, dass wir den Arbeitskampf verloren haben, ist das der Versuch zu vermitteln, dass Widerstand keinen Sinn macht«, sagt Laakmann. »Wir sehen das aber ganz anders.«

Der Arbeitskampf endete im Mai 1988 damit, dass bei einer Schlichtung unter Ministerpräsident Johannes Rau (SPD) das Unternehmen zunächst verpflichtet wurde, 1500 Ersatzarbeitsplätze zu schaffen, außerdem wurde die Schließung auf 1990 verschoben. Danach ging die Geschichte aber weiter: Da in der Zwischenzeit aus der Stahlkrise ein kleiner Boom wurde, zog das Management den Stilllegungsbeschluss im April 1990 zurück, das Werk bestand noch bis 1993. Am Ende erreichten die Kollegen einen Sozialplan, den Laakmann als den »besten Sozialplan aller Zeiten« bezeichnet: Den über 52-Jährigen wurden bis zur Rente 80 Prozent des Einkommens gezahlt. Die Jüngeren kamen in anderen Werken unter. »Wir haben keinen zurückgelassen«, betont Laakmann.

Das Werk aber gibt es nicht mehr, wie so viele andere. In Duisburg hat Thyssen noch einen Standort, dort wird derzeit wieder abgebaut, 2000 Menschen sollen gehen.

Das Milieu zerfällt

Duisburg ist eine Stadt, der es - wenigstens teilweise - gelungen ist, die alte Industriearchitektur in ein neues Stadtbild des Post-Industriezeitalters zu überführen. Mit den Menschen ist dieser Übergang nicht so gut gelungen. Die Ruhruniversität Bochum schrieb 2012 in einer Sozialraumanalyse: »Der Aufschwung anderer Energieträger löste im Jahr 1958 die Kohlekrise aus. Durch wachsende internationale Konkurrenz geriet in den 1970er Jahren dann auch die Stahlindustrie in die Krise. (...) Tausende Bergleute und Stahlarbeiter wurden arbeitslos. Das Ruhrgebiet durchläuft seitdem einen politisch unterstützten Strukturwandel, in dessen Zuge neue Industrien - wie z. B. das Opel-Werk in Bochum - angesiedelt wurden und zahlreiche Hochschulen in der Region entstanden.« Nur: Die Hochschulen boten für viele Arbeiter keine Perspektive - und das Opel-Werk in Bochum gibt es inzwischen auch nicht mehr. Die Begrifflichkeit des »Strukturwandels« ist eher ein Euphemismus für die Verwüstungen, die die Deindustrialisierung hier hinterlassen hat.

Die 6000 Arbeitsplätze, um deren Erhalt 1987/88 in Rheinhausen so unverzagt und unerbittlich gekämpft wurde, waren auch schon nur ein kläglicher Rest dessen gewesen, was einst in Duisburg die Stahlproduktion den Menschen an Lohnarbeit gegeben hatte. 1960 waren bei Krupp in Rheinhausen noch 15 600 Menschen tätig gewesen. Zwischen 1975 und 1985 sanken die Arbeitsplätze in der Duisburger Stahlindustrie von 60 000 auf 44 000. Schon vor dem Arbeitskampf lag 1987 die Arbeitslosigkeit im Großraum Duisburg bei 17 Prozent. Im Kohlebergbau war dieser Prozess noch früher eingetreten. Viele Kohlebergwerker waren daher zunächst auf Stahl umgeschult worden.

Die Arbeitermilieus, die die Basis des Zusammenhalts der Region bildeten, erodierten so immer mehr. Der Soziologe Georg Simmel schreibt über die Moderne, wie mit der Entstehung des Kapitalismus zwar die ständisch und ländlich geprägten Gemeinschaften sich auflösten, er betont aber, dass im urban geprägten Kapitalismus die Einbindungen des Individuums in ein sozial-moralisches Milieu nicht aufgehoben seien. Arbeitermilieus brachten nicht nur Bindung, sondern auch eine vielseitige Kultur hervor; die Deindustrialisierung stellte dies radikal infrage. Im gemeinsamen Kampf um das Stahlwerk in Rheinhausen wurde diese im Zerfall begriffene Gemeinschaft neu gestiftet und gestärkt. Hier wurde nicht nur der Erhalt eines Werkes gefordert, sondern dies auch als notwendig für die Zukunft der Stadt verstanden. »Rheinhausen muss leben«, lautete der Slogan der Bewegung.

Rheinhausen markierte einen Umbruch: Der Fordismus und mit ihm der Korporatismus zwischen Kapital und Arbeit funktionierten nicht mehr wie in den Jahrzehnten zuvor. Ein neoliberaler Paradigmenwechsel, zu dem es auch gehörte, die eingespielten Regeln der Montanmitbestimmung zu brechen, war eine Antwort darauf. Zwar wurde in der BRD - anders als im Vereinigten Königreich - der Arbeiterbewegung kein offensiver Kampf angesagt. Auswirkungen hatte der Paradigmenwechsel aber auch in der Bundesrepublik auf die Gewerkschaften und ihre Kämpfe.

Der Direktor des Instituts für soziale Bewegungen der Ruhruni Bochum, Stefan Berger, schreibt, Rheinhausen sei »eine Bewegung von unten« gewesen, die »nicht von der IG Metall initiiert wurde. In der Tat dauerte es über eine Woche, bis die IG-Metall-Führung sich mit den Arbeitern solidarisierte«, so Berger. Dann aber warf sie einiges in die Waagschale: Vollstreik in der Stahlindustrie des Ruhrgebiets am 10. Dezember, DGB-Aktionstag mit Fackelzug und Gottesdienst beim Werk am 18. Dezember und vieles mehr. Später kam es allerdings zu Verwerfungen. Zwar herrschte Einigkeit, dass man das Werk erhalten wollte, nicht aber darüber, wie weit man zu gehen bereit war, um dies zu erreichen.

Eine Forderung der Zeit war »Vergesellschaftung der Stahlindustrie«. Die IG Metall hatte sie schon 1983 in ihrem stahlpolitischen Programm vorgelegt, der SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel sie beim landesweiten DGB-Aktionstag »Rheinhausen muss leben« im Dezember 1987 vorgetragen. Im Frühjahr 1988 erarbeiteten IG Metall und der Betriebsrat ein detailliertes Konzept zum Erhalt des Werkes, für dessen Durchsetzung im April 1988 eine Woche gestreikt wurde. Am Ende erfolglos.

Es versucht zu haben

Trotzdem: Viele Rheinhausener sind stolz auf ihren Kampf. Es sind immer wieder dieselben Worte, die fallen, spricht man darüber. Allen voran: Solidarität. Aber ist davon mehr geblieben als schöne Erinnerungen, ein Haufen Archivmaterial und eine Gedenktafel?

Stefan Willeke, der als Journalist damals dabei war, schrieb im Februar 2017 in der »Zeit«: »Ich erlebte Arbeiter, die fähig waren zum Widerstand, manche großmäulig, die meisten entschlossen, voller Körperspannung. Sie bebten vor Zorn und (...) erneuerten eine verheißungsvolle Botschaft: Ein Arbeiter muss kein armseliges Opfer gesellschaftlicher Verhältnisse sein, er kann sich vom Objekt zum Subjekt erheben. Zumindest kann er es versuchen.«

Es versucht zu haben, ist vielleicht genau das, was von Rheinhausen bleibt. Und was sich bis heute in der Stadt spüren lässt: eine Bereitschaft zu streiten. Kein Zufall sicherlich, dass es Theo Steegmann war - der ehemalige stellvertretende Betriebsratsvorsitzende des Stahlwerkes und Mitorganisator der Proteste -, der 2010 nach dem verheerenden Loveparade-Unglück den Bürgerentscheid initiierte, der zur Absetzung des Duisburger Oberbürgermeisters führte.

Helmut Laakmann sagt heute: »Wir haben gelernt, welche Kraft in gelebter Demokratie steckt. Es wurde nicht nur für die Stahlarbeiter gekämpft, sondern jeder hat sich dort etwas mitgenommen.« Also - kann man sagen - war das Ergebnis in jedem Fall ein anderes, als wenn die Rheinhausener sich das Kämpfen gespart hätten. Wie lange sich davon noch zehren lassen wird, ist eine andere Frage: Die AfD holte bei den Bundestagswahlen im Wahlkreis Duisburg I, zu dem Rheinhausen gehört, knapp über zehn Prozent. Das ist deutlich weniger als anderswo im Ruhrgebiet, aber dennoch ein passables Ergebnis für die Rechten. Auch Bürgerversammlungen gegen Zuwanderung gab es in den vergangenen Jahren, von Pogromstimmung war die Rede.

Didier Eribon schreibt in »Rückkehr nach Reims«, dass im Arbeitskampf Rassismus und andere »niedrige Empfindungen« verschwinden können. »Dann herrscht Solidarität, und sei es nur eine partielle und vorübergehende.« Fehlende Selbstwahrnehmung als solidarisch-mobilisierbare Gruppe hingegen führe dazu, so Eribon, dass rassistische Kategorien die sozialen ersetzen. Insofern ist die noch immer lebendige Erinnerung an die eigene Kraft in Rheinhausen auch so etwas wie eine Impfung, mit abnehmender Wirkung sicherlich. Bei manchen aber auch 30 Jahre später noch wirksam.

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