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Fabios Freilassung ist noch nicht genug
Marco Perolini erinnert im Fall des G20-Aktivisten an den Grundsatz der individuellen strafrechtlichen Verantwortlichkeit
Die Strafverfolgungsbehörden nahmen Fabio wegen seiner Beteiligung an einer Protestveranstaltung gegen den G20-Gipfel ins Visier, ohne Beweise dafür zu haben, dass er an gewaltsamen Handlungen beteiligt war. Mehrmals wurde seine Freilassung auf Kaution beschlossen, doch jedes Mal legten die Behörden Rechtsmittel gegen die Entscheidung ein. Am 24. November wurde Fabio endlich freigelassen.
Im Juli hatte sich der italienische Fabrikarbeiter entschieden, nach Hamburg zu fahren, um an den Protesten gegen den G20-Gipfel am 7. und 8. Juli teilzunehmen. Er wollte gegen ein System demonstrieren, so erklärte Fabio, in dem die 20 mächtigsten Staats- und Regierungschefs über die Zukunft der Weltbevölkerung entscheiden und schloss sich den Tausenden an, die in Hamburg vielfältige Proteste organisierten.
Viele davon waren friedlich, andere von Gewalt überschattet. Polizeistatistiken zufolge wurden 476 Beamte verletzt. Demonstrierende stellten mehr als 100 Mal Anzeige wegen unverhältnismäßiger Gewaltanwendung durch die Polizei.
Fabio war einer der 186 Menschen, die im Zusammenhang mit den Protesten gegen den G20-Gipfel festgenommen worden waren. Er wurde am Morgen des 7. Juli festgenommen, als er in einer Gruppe von rund 200 Personen, die die Polizei als »Schwarzer Block« bezeichnet, von einem genehmigten Protestcamp im Volkspark Altona in Richtung Stadtzentrum unterwegs war. Anschließend klagte man ihn wegen verschiedener Straftaten an: schwerer Landfriedensbruch, versuchte gefährliche Körperverletzung, tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte.
Ein zentraler Grundsatz des Strafrechts besteht in der individuellen strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Einzelnen. Eine Person darf nicht strafrechtlich verfolgt werden, nur weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort war. Dieses Prinzip scheint im Fall von Fabio jedoch wenig Beachtung gefunden zu haben. Ausgehend von den Amnesty International vorliegenden Informationen gibt es keinerlei Hinweise darauf, dass Fabio an Gewalttaten beteiligt war.
Die Strafverfolgungsbehörden argumentieren, dass Fabio zu einer Gruppe gehörte, die Gewalttaten verübte. Beweise dafür, dass Fabio selbst an einer Gewalttat beteiligt war, blieb die Staatsanwaltschaft jedoch schuldig. Dieser Umstand wurde sogar von den Gerichten bestätigt, darunter in der Entscheidung des Hanseatischen Oberlandesgerichts vom 21. Juli. Darin heißt es, dass »nach derzeitigem Ermittlungsstand dem Angeklagten selbst keine gewalttätige Handlung zugeordnet werden kann«.
Einer der »Hauptbeweise« gegen Fabio besteht laut Polizei in dem Umstand, dass er »die für die radikale linke Szene typische Kleidung trug«. Hinzu kommt, dass keiner der Polizisten, die bei den Anhörungen am 7., 14. und 15. November aussagten, belegen konnte, dass Fabio an konkreten Gewalttaten beteiligt war.
Die strafrechtliche Verfolgung Fabios wäre nur zulässig, wenn es auf Grundlage handfester Beweise einen begründeten Verdacht für seine Beteiligung an Gewalttaten geben würde. Die Strafverfolgung Fabios ist jedoch nicht zulässig, wenn sie lediglich auf dem Umstand beruht, dass andere Demonstrierende gewalttätig wurden oder dass seine Kleidung auf eine ideologische Nähe zu einer von der Polizei als gewaltbereit eingeschätzten Gruppe hinwies.
Am 16. November entschied das Amtsgericht Hamburg-Altona, Fabio auf Kaution freizulassen. Derzeit ist er in Hamburg und muss sich dreimal pro Woche auf einer Polizeiwache melden. Die Freilassung ist ein Schritt in die richtige Richtung, aber noch lange nicht genug. In dem Verfahren sollte das Gericht dringend der Frage nachgehen, ob Fabio bei den Protesten im Juli persönlich an gewaltsamen Handlungen beteiligt war. Und wenn eine solche Beteiligung nicht zweifelsfrei belegt werden kann, dann muss Fabio von allen Vorwürfen freigesprochen werden.
Marco Perolini ist Researcher bei Amnesty International. Er arbeitet insbesondere zu den Themen Menschenrechte in der Sicherheitspolitik und Diskriminierung, beides mit Fokus auf Europa.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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