Schwarze Berge, scharfe Kante

Die Herbstsonne wirft viel Licht, aber auch manch Schatten auf die Traumlandschaften zwischen Gipfeln und Adria.

  • Michael Müller
  • Lesedauer: 6 Min.
Cetinje, dieses alte Städtchen auf einem der montenegrinischen Hochplateaus, ist in ein grelles Herbstlicht getaucht. Das zaubert scharfe Kanten ins Bild. Damit lässt es hier etwas unkaschiert hervor-, dort etwas schattiert zurücktreten. Vielleicht nicht das beste Beobachtungslicht. Indes gibt es Licht und Schatten immer und überall, macht doch beides erst wahres Leben aus.

So ist das auch in Cetinje und Montenegro. Letzteres ein venezianisches Wort, in der Landessprache Crna Gora geheißen, und ins Deutsche oft mit Land der Schwarzen Berge übertragen. »Das klingt ein bisschen kitschig. Die Österreicher nennen es treffender schlicht Schwarzenberg«, sagt Janko Knesević, pensionierter Exportkaufmann, der im Stadtarchiv die ehrenamtliche Seele des Geschäfts ist.

Mit seinen 16 000 Einwohnern gehört Cetinje bereits zu den mittelgroßen Ortschaften im Land. Schnell, vor allem steil geht es von hier auf 1800 Meter zum Lovćen-Massiv hinauf, das dann südwestwärts zur Adriaküste abfällt. Rings ums Städtchen sieht alles ein bisschen bilderbuchartig aus. Nichts Besonderes für die bekanntlich an Sinnesreizen überreiche Balkanhalbinsel. Unverwechselbar hingegen ist das urbane Cetinje selbst: mit der großartigen weiten christlich-orthodoxen Kloster- und der spätklassizistischen Schlossanlage, mit den kleinen Flanierboulevards mit Cafés und Boutiquen, mit den radelnden und skatenden Halbwüchsigen sowie mit Touristen, ja, auch im Spätherbst noch.

Bei einem Bummel fallen hübsche Häuschen mit alten Hoheitszeichen auf, beispielsweise mit dem zaristisch-russischen, dem K.-u.-k-Doppeladler, auch mit dem deutschen Reichsadler. Das sind einstige Botschaftsgebäude. Cetinje war seit dem Mittelalter montenegrinische Hauptstadt. Die jetzige, Podgorica, wurde es erst 1918, ist aber inzwischen fünfzig Mal größer als die alte. Doch Cetinje nennt man bis heute »Krönungsstadt«. Dass der Staatspräsident hier seinen Amtssitz hat, macht das sogar ganz offiziell.

Auch heute noch schaut man aus dem kleinen Cetinje wohl ganz gern über den Tellerrand der Staatsgrenzen. So weist ein hochkulturlastiger Weltweit-Wegweiser mitten im Stadtpark ambitioniert auf weite Ziele: Louvre 1477 km, Prado 1907 km, Eremitage 2076 km; selbst Berlin-Dahlem 1110 km fehlt nicht. Herr Knesević lächelt ein wenig und will das nicht weiter deuten. Da fragt der Reporter eben einige zufällige Passanten: »Das zeigt, dass wir hier ganz Europa im Blick haben, obwohl wir da nur ganz am Rande vorkommen«, meint ein älteres Ehepaar. Von ein paar Schülern, die auf einer Parkmauer hocken, ist zu hören: »Keine Ahnung, was das soll«, »In den Louvre will ich auch mal«, »Ich würde gleich in Paris bleiben«, »Wir haben hier bloß die alte Biljarda«.

Letzteres spielt auf das nahe gelegene Schloss an, wo Nikola I. (1841- 1921) einst, gleichsam symbolisch für westliche Lebensart, einen Billardsalon hatte einrichten lassen. Der Volksmund machte dann aus dem Schloss die Biljarda, also die Billardhalle. Wobei dieser erste Neuzeitkönig Montenegros die europäische Integration auch familiär forcierte. Zwei Töchter heirateten russische Großfürsten, Schwester Helene bestieg mit Viktor Emanuel III. den Thron Italiens, Schwester Anna bekam den Hessen Franz-Joseph von Battenberg und Erbprinz Danilo die Prinzessin Jutta von Mecklenburg.

Doch nach dem Ersten Weltkrieg verschwand Cetinje samt Montenegro wieder mehr im tiefen Schatten der europäischen Geschichte. Heute ist das Städtchen zwar ein echter Geheimtipp, doch Touristen machen hier bestenfalls einen längeren Bus- und Fotostopp. Es sind meist Tagesausflügler von einem der Touri-Kreuzer, die im Adriahafen Kotor (als Cattaro geschichts- wie dramatikbekannt) angelegt haben. »Unsere Leute im Hinterland haben von den Kreuzschiffen doch noch mehr als wir«, regt sich Smilka Asanović, die Zeitungskioskdame am Stadttor von Kotor, die der Autor schon lange kennt, immer ein bisschen auf. »Ein Kaffee, kaum mal eine Ansichtskarte, und weg sind diese Touristen wieder.« Dass man das in Cetinje und auch anderswo im Land ebenso hört, beruhigt Smilka kaum.

Kreuzfahrer sind für Länder wie Montenegro, die erst relativ kurz am großen Tourismusmarkt hängen und insgesamt von diesem quasi abhängig sind, eine besonders janusköpfige Angelegenheit. »Einerseits bringt die Sparte Devisen. Anderseits drängen sie unseren Markt - weil das schnelle Geld eben lockt - geradezu in die Monokultur. Die nötige, von der nationalen Planung eigentlich auch vorgesehene sanfte, kleinteilige Entwicklung wird ausgebremst«, fasst es Jašna Sekulić zusammen, die in der nahen Hafenstadt Budva die Geschäfte einer Incoming-Agentur führt.

In der dortigen Bucht offenbart sich noch eine andere touristische Schattenseite: die lange Phase zügelloser Bauwucherei, nachdem das Land sich 2006 von Serbien aus »Rest-Jugoslawien« gelöst hatte. Mehrreihige Hotelsilos, darunter oft Investruinen, sind das eine Extrem, Prachthotels wie »Spendid« oder »De Luxe Appartment Zavala« das andere. Das eine im Lustschlosslook wird damit beworben, dass da bereits die Rolling Stones abhingen. Das andere in schrecklicher US-Moderne-Adaption lockt mit der Aussicht, dass »Arnold Schwarzenegger einmal Ihr Nachbar sein« könnte.

Doch Montenegro, so groß wie Schleswig-Holstein, mit nur 600 000 Einwohnern, hat sehr wohl auch noch etliche fast unberührte Strände und Gegenden. Nicht zuletzt die fünf großartigen Nationalparks: das Durmitorgebirge im Nordwesten, das Lovćen-Massiv in der Nähe von Cetinje, die Biogradska gora im Nordosten, das Prokletije, die »Verwunschenen Berge«, ganz östlich, schließlich den Skutarisees, größtes Süßwassergewässer des Balkans überhaupt, im Südwesten. Mit solchen Schätzen ließe sich gut werben. Zumal es eine einzigartige Rückversicherung gibt. Hat sich doch Montenegro sogar per Verfassung zum »ökologischen Staat« erklärt.

Die heile Verfassungswelt gibt es auch weitgehend in der Realität. Doch ganz in der Nähe des Skutarisees zieht die grelle Herbstsonne auch wieder die scharfe Kante. Die Saline Ulcinj, direkt an der Adria, ist eines der wichtigsten Rastgebiete europäischer Zugvögel. Aber das sind auch 16 (!) Kilometer unberührter Sandstrand. Die Gefahr, dass das alles »durch Regierungsentscheidung dem Massentourismus geopfert wird«, sei immer noch nicht gebannt, berichtet Dražo M., ein nicht genannt sein wollender Mitarbeiter der Nationalparkverwaltung. Demgegenüber wird in Regierungskreisen gern darauf verwiesen, dass man unter den vier aktuellen EU-Beitrittskandidaten der Region bei der Finanzhilfe für die Angleichung der Rechtsvorschriften weit hinten rangiere. »Wir bekommen nur 500 Millionen Euro, Albanien, Kosova und Serbien das Drei- bis Sechsfache«, klagte dem Reporter jüngst ein hochrangiger Diplomat bei einem Empfang in der Hauptstadt.

Apropos Podgorica: Das sollte man unbedingt auch besuchen. Es hieß in sozialistischen Jugoslawien-Zeiten übrigens Titograd. Eine lange Josipa Broza Titovka ulica mit vielen Neubauten gibt es dort immer noch - wie übrigens in allen anderen ex-jugoslawischen Hauptstädten bis auf eine. Hier wie dort allerdings keinen Weltweit-Wegweiser wie in Cetinje. Doch zwischen Podgorica und Cetinje liegen nur knapp 40 Autokilometer.

Infos:

Nationale Tourismusorganisation: www.montenegro.travel

Alte Königsstadt Cetinje: www.cetinje.me/ index.php/en (auf Englisch)

Besonderer Tipp: nd-Leserreise »Adria und Hinterland - Bosnien/Herzegowina, Montenegro, Kroatien« 6. bis 20. Oktober 2018 Reiseleitung: Michael Müller Infos und Buchung: Tel: (030) 29 78 1620 www.nd-leserreisen.de

Literatur: Marko Plečnik, »Montenegro«, Trescher-Verlag, Berlin, 14,95 €

M. Hatschikjan/St. Troebst, »Südosteuropa - ein Handbuch«, C. H. Beck, München, 39,88 €

W. Helmuth, »Montenegro: Europas jüngstes Königreich«, Dt. Verlagsgesellschaft, 1911 mim

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