Fix und Foxi im Sandmännchenland

Das Hans-Otto-Theater Potsdam hat den Roman »Skizze eines Sommers« von André Kubiczek auf die Bühne gebracht

  • Christian Baron
  • Lesedauer: 5 Min.

Maxim Biller nannte den Roman »Skizze eines Sommers« von André Kubiczek im »Literarischen Quartett« vom Oktober 2016 »lächerlich« und »unerträglich«. Im Normalfall bedeutet ein solches Urteil aus dem Mund dieses Mannes, dass es sich um ein wahnsinnig gutes Buch handeln muss. Biller war kurz zuvor mit seinem Roman »Biografie« bei Kritik und Publikum durchgefallen und bezog in seinen Groll auch den Deutschen Buchpreis ein (»Totaler Quatsch!«). Dafür war Kubiczek damals nominiert, Biller dagegen bis heute noch nie.

Wer außerdem weiß, dass es sich bei Maxim Biller um einen strammen Antikommunisten handelt, kann sich im Fall dieses Werkes denken, woher der ideologische Wind weht. Denn »Skizze eines Sommers« spielt im Potsdam des Jahres 1985. In Moskau ist gerade ein gewisser Michail Sergejewitsch Gorbatschow zum Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU ernannt worden. Glasnost und Perestroika sind noch nicht auf die politische Agenda gerückt. Genau in dieser Phase spielt der Roman von André Kubiczek, der als Sohn des Staatswissenschaftlers Wolfgang Kubiczek zu Billers Überdruss aus einem privilegierten Potsdamer Haushalt stammt.

Das Buch erzählt nicht die unter Kalten Kriegern aus dem Westen gern gelesene Story von in Lumpen gekleideten Sklaven, die der »Unrechtsstaat« DDR mit Peitschen und Kalaschnikows unter grauem Himmel lustvoll an der Ausübung von Demokratie, Frieden und Freiheit hindert. Stattdessen skizziert Kubiczek den verwirrenden Sommer des 16-jährigen René, dessen Mutter seit zwei Jahren tot ist. Sein Vater weilt in außenpolitischer Mission in der Schweiz und hat dem Sohn satte tausend Mark hinterlassen.

Darum hat der Teenager während der kompletten Sommerferien sturmfreie Bude. Besser geht’s nicht, könnte man meinen. Tatsächlich schwelgen René und seine Freunde jedoch in tiefer Melancholie. Sie schwärmen für Baudelaire oder Sartre und schminken sich im Stil der britischen Dark-Wave-Band »The Cure«. In diese sich zwischen Café und Disko in der eigenen Sinnsuche verlierende Clique brechen schnell - wie könnte es auch anders sein - die Mädchen ein. Was das Leben wirklich schön macht, das erfahren die Jungs erst jetzt.

Bei so starken Hormonwallungen, so viel Musik, so massivem Seinsschmerz und so wachsweichen Liebeleien war es nur eine Frage der Zeit, bis der Text für die Theaterbühne adaptiert würde. Dass sich das Hans-Otto-Theater Potsdam die Uraufführung sicherte und dass Regisseur Ni᠆klas Ritter den Text dort nun mit Schülern der Filmuniversität Babelsberg »Konrad Wolf« inszeniert hat, das macht dieses Stück zu einem Heimspiel für alle Beteiligten.

Zuerst aber fällt eines negativ auf: Dieser Bühnen-René ist anders angelegt als der Roman-René. Im Buch schwingen zwischen den Zeilen immer die Unsicherheit und die Selbstzweifel des Protagonisten mit. Im Theater interpretiert Frederik F. Günther den Heranwachsenden als abgeklärten Typen mit Robert-Smith-Frisur, der in seiner Coolness nur übertroffen wird vom besten Freund Mario (Steven Sowah). Die Parts der Tölpel sind in beiden Fassungen an Dirk (Tom Böttcher) und Michael (Dominik Matuschek) vergeben. Während René und Mario sich kaum retten können vor weiblichen Avancen, geht das unbeholfene Duo komplett leer aus.

In der starken Akzentuierung der Verlierer scheint auf der Bühne sogar eine sehr heutige Gesellschaftskritik auf, die Michel Houellebecq in seinem Roman »Ausweitung der Kampfzone« so beschrieben hat: »In einem sexuellen System, in dem Ehebruch verboten ist, findet jeder recht oder schlecht seinen Bettgenossen. In einem völlig liberalen Sexualsystem haben einige ein abwechslungsreiches und erregendes Sexualleben; andere sind auf Masturbation und Einsamkeit beschränkt.«

Das war es aber auch schon mit der dunklen Seite. Ritter hält sich streng an die Romanhandlung, bringt wenige überraschende Ideen ein und konzentriert alles auf die Bebilderung eines Seelenlebens. Obwohl vom Ensemble niemand die achtziger Jahre bewusst erlebt haben dürfte, ist keine Szene peinlich oder manieriert. Das mag auch daran liegen, dass in dieser Inszenierung äußerlich wenig nach der damaligen Zeit aussieht. Die Bühne von Bernd Schneider besteht aus einer holzvertäfelten Tanzfläche, dahinter steht eine zersplitterte Glasscheibe. Die Jungs artikulieren sich im Jugendslang des 21. Jahrhunderts und tragen Anzüge, mit denen sie heute in angesagten Berliner Clubs problemlos Einlass erhielten.

Nur Bianca (Sarah Schulze Tenberge) - als angehende Friseurin von den anderen zur personifizierten Arbeiterklasse stilisiert - trägt ein offensichtlich von Cyndi Lauper inspiriertes Outfit, das man damals wahrscheinlich »ausgeflippt« genannt hätte. Mit ihr telefoniert René in »Du legst auf. Nein, du legst auf«-Verliebtheit nächtelang, obwohl er doch eigentlich in dieses Mädchen ohne Namen (Lilly Menke) verschossen ist, das sich gerade in den Urlaub verabschiedet hat. Und dann kommt auch noch Rebecca (Amina Merai) dazu, für die sich Dirk und Michael interessieren.

Ritter hat mit Dramaturgin Nadja Hess den harmlos wirkenden und doch die wichtigen Fragen des Lebens berührenden Kern aus dem fast 400 Seiten starken Roman destilliert. Keine Rolle ist falsch besetzt, selbst die Nebenfiguren erzählen mit kleinen Gesten große Dramen. Wer jetzt noch nicht von der Qualität des Buches und der Inszenierung überzeugt ist, dem liefert der mittlerweile nicht mehr im »Literarischen Quartett« auftretende Maxim Biller letzte Argumente. Bei »Skizze eines Sommers«, befand er, handele es sich um eine »Sandmännchenversion der DDR«, jeder sei »lieb« und spräche »in Fix-und-Foxi-Sprache«. André Kubi᠆czek hat also alles richtig gemacht.

Nächste Vorstellungen am 16. und 30. Dezember

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